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Die Erscheinung

Von

Im Lenz, beim ersten Schimmer
Der jungen Morgenröthe,
Vom zarten Silberrauche,
Der sich der Flur allmählig
Entschwinget, wie umschleiert,
Sang zum anmuth′gen Tanze
Ein Reigen junger Mädchen:

Wohin das Aug′ sich wendet,
Begegnet ihm die Freude:
Sie hüpfet auf den Fluren,
Sie schwebet in den Lüften,
Sie flötet aus dem Haine,
Sie klettert auf den Bergen!
Drum laßt auch uns, Gespielen,
Den Tag der Freude weihen!

Da naht′ ein Hirt und sagte:
Wie waget ihr, o Mädchen,
Die feierliche Stille,
Die sonst hier herrscht, mit euerm
Gesang zu unterbrechen?
Seht ihr denn nicht die Stätte,
Von jungem Moos bekleidet,
Das Grab der Königstochter? –

Da formt im Sonnenstrahle
Sich auf dem Blumengrabe
Ein rosenfarbner Nebel,
Wird klarer dann und klarer,
Und allen däucht, sie sehen,
Wie hinter einem Schleier,
Die Glanzgestalt der edlen
Erhabnen Königstochter.
Da hörten sie die Worte,
Wie zarten Klang der Flöte:

»Was schreckst du, Greis, die Mädchen?
»Wie Lebende im Schlummer,
»Den Eos Flügel scheuchet,
»Ein Bild oft sehn der Feste,
»Die sie den Tag gefeiert:
»So zaubern ihre Lieder
»In meinen langen Schlummer,
»Den keine Eos scheuchet,
»Ein süßerinnernd Abbild
»Des frühverlaßnen Lebens.
»Ergötzet euch, o Mädchen,
»Eh′ euch, wie mich, der Tod raubt,
»Nicht achtend auf der Mutter
»Nachjammernde Verzweiflung,
»Nicht achtend auf der Schwestern
»Lautschluchzend heiße Thränen.«

Gedicht als Bild, zum Downloaden und Teilen

Gedicht: Die Erscheinung von Elisabeth Kulmann

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Die Erscheinung“ von Elisabeth Kulmann erzählt eine Geschichte von Leben, Tod und der Erinnerung an Freude, eingebettet in die malerische Kulisse eines Frühlingsmorgens. Die Struktur des Gedichts ist in drei Abschnitte unterteilt, die eine Erzählung entfalten: ein fröhlicher Tanz junger Mädchen, die mahnende Intervention eines Hirten und schließlich die Erscheinung der verstorbenen Königstochter, die aus dem Grab heraus spricht.

Der erste Teil des Gedichts zeichnet ein idyllisches Bild des Frühlings und der Freude. Junge Mädchen tanzen und singen, während die Natur in voller Blüte steht. Die Freude wird allgegenwärtig dargestellt, von den Feldern über die Lüfte bis hin zu den Bergen. Dieser Abschnitt etabliert eine lebendige und unbeschwerte Atmosphäre, die durch die lebhaften Bilder und den fröhlichen Gesang der Mädchen verstärkt wird. Der „anmuth’gen Tanz“ und die Aufforderung, den „Tag der Freude“ zu weihen, unterstreichen die Unbeschwertheit und das Genießen des gegenwärtigen Augenblicks.

Der zweite Abschnitt führt eine Kontrastierung ein. Der Hirte unterbricht die Fröhlichkeit der Mädchen mit einer ernsten Mahnung. Er erinnert sie an die „feierliche Stille“ des Ortes und weist auf das Grab der Königstochter hin. Diese Intervention markiert einen Wendepunkt in der Erzählung, indem sie die Vergänglichkeit des Lebens und die Nähe des Todes in den Vordergrund rückt. Die Beschreibung des Grabes, bedeckt mit „jungem Moos“, deutet auf das Vergessen und die Vergänglichkeit der Jugend hin, die im ersten Teil so unbeschwert gefeiert wurde.

Der dritte Abschnitt ist das Herzstück des Gedichts. Aus dem Grab erscheint die Königstochter, zunächst als „rosenfarbener Nebel“, der sich dann zu einer klaren Erscheinung wandelt. Sie spricht zu den Mädchen und ermahnt sie, ihre Jugend und Freude zu genießen, bevor der Tod sie ereilt. Ihre Worte sind sanft und tröstlich, vergleichen den Tod mit einem langen Schlummer, in dem die Erinnerung an das Leben weiterlebt. Sie drückt die Sehnsucht nach dem Leben aus und betont die Bedeutung der Freude und des Genusses in ihrer jugendlichen Zeit, ungeachtet des Schmerzes, den ihr Tod bei ihrer Mutter und ihren Schwestern verursacht hat.

Insgesamt ist das Gedicht eine Meditation über die Gegensätze von Leben und Tod, Freude und Trauer. Es feiert die Schönheit des Lebens und die Vergänglichkeit der Jugend, während es gleichzeitig die Erinnerung als eine Form der Unsterblichkeit hervorhebt. Die Erscheinung der Königstochter und ihre Botschaft verleihen dem Gedicht eine tiefe emotionale Resonanz und machen es zu einer eindringlichen Betrachtung über die menschliche Existenz. Das Gedicht ist somit eine Erinnerung daran, das Leben in all seinen Facetten zu genießen, bevor die Dunkelheit des Todes uns ereilt.

Weitere Informationen

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Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.