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Ich und die Rose warten

Von

Vor mir
Auf der dunkelbraunen Tischdecke
Liegt eine große hellgelbe Rose.
Sie wartet mit mir
Auf die Liebste,
Der ich ins schwarze Haar
Sie flechten will.

Wir warten schon eine Stunde.
Die Haustür geht.
Sie kommt, sie kommt.
Doch herein tritt
Mein Freund, der Assessor;
Geschniegelt, gebügelt, wie stets.
Der Assessor will Bürgermeister werden.
Gräßlich sind seine Erzählungen
Über Wahlen, Vereine, Gegenpartei.
Endlich bemerkt er die Blume.
Und seine gierigen,
Perlgrauglacebehandschuhten Hände
Greifen nach ihr:
„Ah, süperb!
Müssen mir geben fürs Knopfloch.“
Nein! ruf ich grob.
„Herr Jess noch mal,
Sind heut nicht bei Laune.
Denn nicht.
Empfehl mich Ihnen.
Sie kommen doch morgen in die Versammlung!“

Ich und die Rose warten.
Die Haustür geht.
Sie kommt, sie kommt.
Doch herein tritt
Mein Freund, Herr von Schnellbein.
Unerträglich langweilig sind seine Erzählungen
Über Bälle und Diners.
Endlich bemerkt er die Blume.
Und seine bismarckbraunglacebehandschuhten Hände
Greifen nach ihr:
„Ah, das trifft sich,
Brauch ich nicht erst zu Bünger.
Hinein ins Knopfloch.
Du erlaubst doch?“
Nein! schrei ich wütend.
„Na, aber,
Warum denn so ausfallend;
Bist heut nicht bei Laune.
Denn nicht.
Empfehl mich dir.“

Ich und die Rose warten.
Die Haustür geht.
Sie kommt, sie kommt.
Doch herein tritt
Mein Freund, der Dichter.
Der bemerkt sofort die hellgelbe.
Und er leiert ohn Umstände drauf los:
„Die Rose wallet am Busen des Mädchens,
Wenn sie spät abends im Parke des Städtchens
Gehet allein im mondlichten Schein…“
Halt ein, halt ein!
„Was ist denn, Mensch.
Aber du schenkst mir doch die Blume?
Ich will sie mir ins Knopfloch stecken.“
Nein!! brüll ich wie rasend.
„Aber was ist denn?
Bist heut nicht bei Laune.
Denn nicht.
Empfehl mich dir.“

Ich und die Rose warten.
Die Haustür geht.
Sie kommt, sie kommt.
Und – da ist sie.
Hast du mich aber heute lange lauern lassen.
„Ich konnte doch nicht eher…
Oh, die Rose, die Rose.“
Hut ab erst.
Stillgestanden!
Nicht gemuckst.
Kopf vorwärts beugt!
Und ich nestl ihr
Die gelbe Rose ins schwarze Haar.
Ein letzter Sonnenschein
Fällt ins Zimmer
Über ihr reizend Gesicht.

Gedicht als Bild, zum Downloaden und Teilen

Gedicht: Ich und die Rose warten von Detlev von Liliencron

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Ich und die Rose warten“ von Detlev von Liliencron ist ein feinsinniges, humorvoll zugespitztes Spiel mit Erwartung, Sehnsucht und alltäglicher Enttäuschung, das sich zu einem zärtlichen, fast feierlichen Moment der Erfüllung steigert. In lockerem, dialogischem Ton schildert das lyrische Ich die Wartezeit auf die Geliebte – stets unterbrochen durch unwillkommene Gäste, die alle ein Interesse an der „großen hellgelben Rose“ zeigen, die eigentlich einem ganz bestimmten Zweck vorbehalten ist.

Im Zentrum des Gedichts steht die Rose als Symbol der Liebe und Treue. Sie liegt auf dem Tisch, schön, still, bedeutungsvoll – eine Art stummer Mitwarterin, Mitwisserin der romantischen Absicht des Sprechers. Die wiederkehrende Formel „Ich und die Rose warten“ betont die Geduld, aber auch das Spannungsverhältnis zwischen innerer Hoffnung und äußerer Störung.

Die Besucher – Assessor, Herr von Schnellbein, der Dichter – sind Karikaturen ihrer gesellschaftlichen Rollen: der Karrierepolitiker, der Gesellschaftsmensch, der selbstverliebte Poet. Jeder von ihnen bemerkt die Rose, will sie – zweckentfremdet – ins Knopfloch stecken, ohne zu begreifen, dass sie bereits „versprochen“ ist. Die Ablehnung durch das lyrische Ich wird dabei immer energischer, gipfelnd im wütenden Brüllen. Die Absage an die Vereinnahmung der Rose ist zugleich ein Protest gegen seelenlose Routine, Oberflächlichkeit und das Unverständnis für das, was dem Sprecher heilig ist.

Erst im letzten Teil erfüllt sich die Erwartung: Die Geliebte tritt ein, ganz ohne Pomp oder Pathos, und sofort wird klar, dass das Warten gerechtfertigt war. Die Szene der Übergabe – vom „Stillgestanden!“ bis zum feierlichen „Kopf vorwärts beugt!“ – ist überzeichnet militärisch inszeniert und wirkt gerade dadurch liebevoll-ironisch. Der Moment, in dem die Rose ins Haar geflochten wird, wird von einem letzten Sonnenstrahl beleuchtet – ein poetisches Bild für das Aufgehen der Hoffnung, für Liebe und Schönheit im richtigen Augenblick.

Liliencron verbindet hier Alltag und Poesie, Komik und Romantik, Konkretes und Symbolisches auf meisterhafte Weise. Das Gedicht lebt vom Wechselspiel zwischen äußeren Störungen und innerer Entschlossenheit, von sprachlicher Leichtigkeit und liebevoller Ernsthaftigkeit. „Ich und die Rose warten“ ist damit nicht nur ein charmantes Stück moderner Lyrik, sondern auch ein Plädoyer für Geduld, Treue und das Bewahren des Besonderen im Alltäglichen.

Weitere Informationen

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Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.