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Der Blitzzug

Von

Quer durch Europa von Westen nach Osten
Rüttert und rattert die Bahnmelodie.
Gilt es die Seligkeit schneller zu kosten?
Kommt er zu spät an im Himmelslogis?
Fortfortfortfortfortfort drehn sich die Räder
Rasend dahin auf dem Schienengeäder,
Rauch ist der Bestie verschwindender Schweif,
Schaffnerpfiff, Lokomotivengepfeif.

Länder verfliegen und Städte versinken,
Stunden und Tage verflattern im Flug,
Täler und Berge, vorbei, wenn sie winken,
Traumbilder, Sehnsucht und Sinnenbetrug.
Mondschein und Sonne, noch einmal die Sterne,
Bald ist erreicht die beglückende Ferne,
Dämmerung, Abend und Nebel und Nacht,
Stürmisch erwartet, was glühend gedacht.

Dämmerung senkt sich allmählich wie Gaze,
Schon hat die Venus die Wache gestellt.
Nur noch ein Stündchen! Dann nimmt sich die Straße,
Trennt, was sich hier aneinander gesellt:
Reiche Familien, Bankiers, Kavaliere,
Landrat, Gelehrter, ein Prinz, Offiziere,
„Damen und Herren“, ein Dichter im Schwarm,
Liebliche Kinder mit Spielzeug im Arm.

Nun ist das Dunkel dämonisch gewachsen,
In den Coupés brennt die Gasflamme schon,
Fortfortfortfortfortfort, glühende Achsen,
Schrillt ein Signal, klingt ein wimmernder Ton?
Fortfortfortfortfortfort, steht an der Kurve,
Steht da der Tod mit der Bombe zum Wurfe?
Halthalthalthalthalthalthalthalthaltein –
Ein andrer Zug fährt mitten hinein.

Folgenden Tags, unter Trümmern verloren,
Finden sich zwischen verkohltem Gebein,
Finden sich schuttüberschüttet zwei Sporen,
Brennscheren, Uhren, ein Aktienschein,
Geld, ein Gedichtbuch: „Seraphische Töne“,
Ringe, ein Notenblatt: „Meiner Camöne“,
Endlich ein Püppchen, im Bettchen verbrannt,
Dem war ein Eselchen vorgespannt.

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Gedicht: Der Blitzzug von Detlev von Liliencron

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Der Blitzzug“ von Detlev von Liliencron ist eine dramatische Ballade über die Geschwindigkeit, Verheißung und letztlich fatale Katastrophe der modernen Technik. In eindringlichen Versen beschreibt Liliencron den Lauf eines Schnellzugs – ein Symbol des Fortschritts –, der quer durch Europa rast, begleitet von Hoffnung, Sehnsüchten und einer bunten Gesellschaft, bevor er in einer plötzlichen Kollision endet.

Der erste Teil des Gedichts schildert mit dynamischer Sprachmelodie die Bewegung des Zuges. Die Alliteration „Fortfortfortfortfortfort“ sowie lautmalerische Elemente wie „Schaffnerpfiff“ und „Lokomotivengepfeif“ erzeugen ein rastloses Tempo und lassen die Lesenden die unaufhaltsame Kraft der Maschine spüren. Der Schnellzug erscheint als „Bestie“ – eine mächtige, beinahe lebendige Kreatur. Diese Bewegung wird zur Metapher für den Wunsch nach schneller Erfüllung, für ein Vorwärtsdrängen ohne Halt – sei es im Sinne von Reisen, Streben oder gar Flucht vor dem eigenen Leben.

Doch die Euphorie der Geschwindigkeit ist trügerisch. Der zweite Teil lässt einen Moment der Dämmerung einkehren: ein Übergang zwischen Licht und Dunkel, Leben und Tod. Menschen unterschiedlichster Herkunft reisen gemeinsam, jeder mit seiner eigenen Geschichte und Ziel – aber alle vereint durch die flüchtige Gemeinschaft des Zuges. In diesem Abschnitt klingt bereits eine Vorahnung von Trennung und Endlichkeit an, wobei der Dichter selbst unter den Reisenden auftaucht, beinahe selbstironisch „im Schwarm“.

Der dritte Teil bringt die dramatische Wende: Das Dunkel wird „dämonisch“, das Gaslicht flackert, und die Geschwindigkeit bleibt ungebremst. Die wiederholten Worte „Fortfortfortfortfortfort“ schlagen nun in eine bedrohliche Spannung um, gefolgt von „Halthalthalthalthalthalthaltein“ – ein abruptes Stoppen, das jedoch zu spät kommt. Der Unfall, möglicherweise verursacht durch menschliches oder technisches Versagen, ist unausweichlich. Die Kollision zweier Züge steht dabei auch symbolisch für den Zusammenstoß von Fortschritt und Menschlichkeit, von Geschwindigkeit und Kontrolle.

Die letzte Strophe ist ein bitteres Resümee: Am Tag danach findet man nur noch Überreste – verkohlte Gegenstände, Spuren der Reisenden. Die Auswahl dieser Objekte – von Aktien und Gedichtbuch bis zum verbrannten Puppenbett – zeigt die ganze Spannweite menschlicher Hoffnungen, Ideale und Zerbrechlichkeit. Besonders das Schlussbild des Puppenwagens mit dem „Eselchen“ verleiht der Katastrophe eine erschütternde Unschuld und unterstreicht die Tragik des Geschehens.

„Der Blitzzug“ ist ein kritischer Kommentar zur Moderne und ihrer Faszination für Geschwindigkeit, Technik und Fortschritt. Liliencron zeigt mit dichterischer Wucht, wie dünn die Grenze ist zwischen verheißungsvoller Bewegung und zerstörerischem Absturz – und wie der Mensch in dieser Dynamik oft nur ein Passagier bleibt, ausgeliefert einer Macht, die sich seiner Kontrolle entzieht.

Weitere Informationen

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Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.