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Betrunken

Von

Ich sitze zwischen Mine und Stine,
Den hellblonden hübschen Friesenmädchen,
Und trinke Grog.
Die Mutter ging schlafen.
Geht Mine hinaus,
Um heißes Wasser zu holen,
Küss ich Stine.
Geht Stine hinaus,
Um ein Brötchen mit aufgelegten kalten Eiern
Und Anchovis zu bringen,
Küss ich Mine.
Nun sitzen wieder beide neben mir.
Meinen rechten Arm halt ich um Stine,
Meinen linken um Mine.
Wir sind lustig und lachen.
Stine häkelt,
Mine blättert
In einem verjährten Modejournal.
Und ich erzähl ihnen Geschichten.
Draußen tobt, höchst ungezogen,
Unser guter Freund,
Der Nordwest.
Die Wellen spritzen,
Es ist Hochflut,
Zuweilen über den nahen Deich
Und sprengen Tropfen
An unsre Fenster.

Ich bin verbannt und ein Gefangener
Auf dieser vermaledeiten,
Einsamen kleinen Insel.
Zwei Panzerfregatten
Und sechs Kreuzer spinnen mich ein.
Auf den Wällen
Wachen die Posten,
Und einer ruft dem andern zu,
Durch die hohle Hand,
Von Viertel- zu Viertelstunde,
In singendem Tone:
Kamerad, lebst du noch?

Wie wohl mir wird.
Alles Leid sinkt, sinkt.
Mine und Stine lehnen sich
An meine Schultern.
Ich ziehe sie dichter und dichter
An mich heran.
Denn im Lande der Hyperboreer,
Wo wir wohnen,
Ist es kalt.

Ich trank das sechste Glas.
Ich stehe draußen
An der Mauer des Hauses,
Barhaupt,
Und schaue in die Sterne:
Der winzige, matt blinkende,
Grad über mir,
Ist der Stern der Gemütlichkeit,
Zugleich der Stern
Der äußersten geistigen Genügsamkeit.
Der nah daneben blitzt,
Der große, feuerfunkelnde,
Ist der Stern des Zorns.
Welten-Rätsel.
Die Welt – das Rätsel der Rätsel.
Wie mir der Wind die heiße Stirn kühlt.
Angenehm, höchst angenehm.

Ich bin wieder im Zimmer.
Ich trinke mein achtes Glas Nordnordgrog.
Kinder, erklärt mir das Rätsel der Welt.
Aber Mine und Stine lachen.
Das Rätsel, bitt ich,
Das Rätsel der Welt.

Ich trinke das zehnte Glas.
Tanzt, Kinder, tanzt,
Ich bin der Sultan,
Ihr seid meine Georgierinnen,
Ich liebe euch,
Geht mit mir zu Bett.
Ich kann nicht tanzen mehr?
Wie sagte doch der Sultan
Im Macbeth?
Ich meine Shakespeare:
Trunkenheit reizt zur Liebe,
Aber die Beine,
Oder was sagte er,
Möchten gern, aber sie können nicht.
Mädchens, unterstützt mich,
Hebt mich,
Ich will eine Rede reden:
Die Welt ist das Tal der Küsse,
Die Welt ist der Berg des Kummers,
Die Welt ist das Wasser der Flüssigkeit,
Die Welt ist die Luft des Unsinns.
Was sagte ich?
Ich setze mich.
Noch ein Glas Grog. Vorwärts!
Die Langeweile,
Verzeiht, Mächens,
An eurer Seite,
Schändlich, das zu sagen,
Die Welt ist das Tal, das,
Das Tal der Langenweile.
Jetzt ist Macbeth,
Ich lieb euch, Mächens,
Ich bin der Sultan,
Gebt mir Pantherfelle.
Die Sklaven, die Sklaven her!
Zum Donner, wo bleiben die Schufte!
Auf mein Lager tragt mich.
Ich will schlafen.
So, Macbeth,
Tanzen, tan-zen.
Gu‘ Nacht,
Ich wer‘ mü-de,
Gu‘ Nach …
Wie-e?

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Gedicht: Betrunken von Detlev von Liliencron

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Betrunken“ von Detlev von Liliencron ist eine poetische Momentaufnahme im Grenzbereich zwischen Rausch, Einsamkeit, Sehnsucht und absurd-komischer Selbstdarstellung. In einem freien, erzählenden Stil schildert das lyrische Ich einen trinkseligen Abend auf einer abgeschiedenen Insel, wo es zwischen zwei jungen Frauen – Mine und Stine – sitzt und langsam dem Alkoholrausch verfällt. Der Text entfaltet sich wie ein innerer Monolog, der sich zunehmend auflöst – in Bilder, Gefühlsfetzen und Sprachspielereien.

Zunächst wirkt die Szene fast harmlos: Grog, Mädchen, Geschichten, Sturm – eine urige, norddeutsche Atmosphäre. Doch Liliencron unterläuft diese Idylle durch die gleichzeitige Präsenz einer melancholischen Gefangenschaft. Das lyrische Ich ist nicht freiwillig auf der Insel – es ist „verbannt und ein Gefangener“, überwacht von Kriegsschiffen und Posten. Die äußere Isolation steht sinnbildlich für eine existenzielle Vereinsamung, die durch Alkohol und weibliche Nähe überdeckt werden soll.

Mit zunehmendem Alkoholpegel verschwimmen Realität und Fantasie. Die Gedanken des lyrischen Ichs schweifen ab – zu den Sternen, zur Philosophie, zu Shakespeare. Es pendelt zwischen Überheblichkeit („Ich bin der Sultan“) und kindlicher Hilflosigkeit („Hebt mich“), zwischen der Suche nach Welterkenntnis („das Rätsel der Welt“) und dem völligen sprachlichen und geistigen Zerfall. Die Sprache wird rhythmisch flatternd, Satzteile brechen ab, Wiederholungen schleichen sich ein – ein gekonnter dichterischer Nachvollzug des Deliriums.

Liliencron entlarvt in diesem Gedicht nicht nur das romantische Bild vom „trunkenen Dichter“, sondern spielt mit ihm. Der Rausch wird hier weder verklärt noch moralisch verurteilt – er wird einfach gezeigt in seiner ganzen Absurdität, Tragikomik und Verletzlichkeit. Die lyrische Stimme oszilliert zwischen tiefer Lebenssehnsucht und grotesker Selbstparodie.

„Betrunken“ ist so gesehen ein Ausdruck moderner Dichtung: ohne feste Form, nah am Sprechduktus, durchzogen von Ironie, aber auch offen für existentielle Fragen. Es ist eine kleine Szenenstudie über Eskapismus, das Scheitern am Leben und die große, trostlose Komik menschlicher Schwäche – berührend, seltsam und kraftvoll in seiner Ehrlichkeit.

Weitere Informationen

Hier finden sich noch weitere Informationen zu diesem Gedicht und der Seite.

Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.