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Am Strande

Von

Der lange Junitag war heiß gewesen.
Ich saß im Garten einer Fischerhütte,
Wo schlicht auf Beeten, zierlich eingerahmt
Von Muscheln, Buchs und glatten Kieselsteinen,
Der Goldlack blüht, und Tulpen, Mohn und Rosen
In bäurisch buntem Durcheinander prunken.
Es war die Nacht schon im Begriff dem Tage
Die Riegel vorzuschieben; stiller ward
Im Umkreis alles; Schwalben jagten sich
In hoher Luft; und aus der Nähe schlug
Ans Ohr das Rollen auf der Kegelbahn.
Im Gutenacht der Sonne blinkerten
Die Scheiben kleiner Häuser auf der Insel,
Die jenseit lag, wie blanke Messingplatten.
Den Strom hinab glitt feierlich und stumm,
Gleich einer Königin, voll hoher Würde,
Ein Riesenschiff, auf dessen Vorderdeck
Die Menschen Kopf an Kopf versammelt stehn.
Sie alle winken ihre letzten Grüße
Den letzten Streifen ihrer Heimat zu.
In manchen Bart mag nun die Mannesträne,
So selten sonst, unaufgehalten tropfen.
In manches Herz, das längst im Sturz und Stoß
Der Lebenswellen hart und starr geworden,
Klingt einmal noch ein altes Kinderlied.
Doch vorwärts, vorwärts ins gelobte Land!
Die Pflicht befiehlt zu leben und zu kämpfen,
Befiehlt dem einen, für sein Weib zu sorgen,
Und für sich selbst dem andern. Jeder so
Hat seiner Ketten schwere Last zu tragen,
Die, allzuschwer, ihn in die Tiefe zieht.
Geboren werden, leiden dann und sterben,
Es zeigt das Leben doch nur scharfe Scherben.
Vielleicht? Vielleicht auch jetzt gelingt es nicht,
Auf fremdem Erdenraum, mit letzter Kraft,
Ein oft geträumtes, großes Glück zu finden.
Das Glück heißt Gold, und Gold heißt ruhig leben:
Vom sichern Sitze des Amphitheaters
In die Arena lächelnd niederschaun,
Wo, dichtgeschart, der Mob zerrissen wird
Vom Tigertier der Armut und der Schulden…

Das Schiff ist längst getaucht in tiefe Dunkel.
Bleischwere Stille gräbt sich in den Strom,
Indessen auf der Kegelbahn im Dorf
Beim Schein der Lampe noch die Gäste zechen.
In gleichen Zwischenräumen bellt ein Hund,
Und eine Wiege knarrt im Nachbarhause.

Gedicht als Bild, zum Downloaden und Teilen

Gedicht: Am Strande von Detlev von Liliencron

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Am Strande“ von Detlev von Liliencron entwirft ein stimmungsvolles Bild zwischen Idylle und Abschied, zwischen stiller Naturbeobachtung und gesellschaftlicher Reflexion. Es beginnt mit einer ruhigen Beschreibung eines Sommerabends an der Küste und endet in einer dunkler werdenden Szenerie, in der ein aus dem Blick entschwundenes Auswandererschiff Anlass für tiefgreifende Gedanken über menschliches Leben, Sehnsucht und das Streben nach Glück gibt.

Die einleitenden Strophen schildern in detailreicher Sprache den Schauplatz: ein Bauerngarten mit einfachen Blumen, Muscheln, Kieselsteinen, eine dörfliche Szenerie, durchzogen von alltäglichen Lauten wie dem Kegelschlag und dem Zwitschern der Schwalben. Diese scheinbar banale Ruhe wird jedoch bald durch die langsame Vorbeifahrt eines Schiffes unterbrochen, das wie eine „Königin“ majestätisch und würdevoll dahinzieht. Auf dem Schiff: Auswanderer, Menschen auf der Flucht vor Armut, auf der Suche nach einem besseren Leben – vielleicht in Amerika.

Hier wechselt der Ton: Die poetische Beobachtung wird zur sozialen und existenziellen Reflexion. Liliencron beschreibt die ambivalenten Gefühle der Ausreisenden – Trauer, Pflichtgefühl, Hoffnung. In einfachen, aber tief empfundenen Bildern wird das ganze Gewicht menschlicher Existenz angedeutet: Ketten der Verantwortung, Tränen im Bart, alte Lieder im harten Herzen, und schließlich der Drang „vorwärts ins gelobte Land“. Die Suche nach Glück ist an Bedingungen geknüpft – an Gold, an Sicherheit, an Abstand vom täglichen Überlebenskampf.

Besonders eindrucksvoll ist das Bild des Amphitheaters, von dem aus die Glücklichen auf das Elend anderer hinabblicken. Armut und Schulden werden als „Tigertier“ beschrieben, das in der Arena Menschen zerreißt. Damit schlägt das Gedicht eine scharfe soziale Note an und kritisiert die gesellschaftliche Ungleichheit – das Streben nach einem besseren Leben ist nicht nur eine private Hoffnung, sondern ein Ausdruck struktureller Not.

Die letzte Strophe bringt einen leisen, beinahe resignativen Ausklang: Das Schiff ist verschwunden, Dunkelheit und Stille breiten sich aus, nur das Bellen eines Hundes und das Knarren einer Wiege bleiben als Geräusche des fortlaufenden Lebens. Der Wechsel zwischen äußerer Bewegung und innerer Stille, zwischen Aufbruch und Alltäglichkeit, verleiht dem Gedicht eine nachdenkliche Tiefe. Liliencron gelingt hier eine poetische Momentaufnahme, die weit über den konkreten Schauplatz hinausgeht und universelle Fragen nach Heimat, Pflicht, Hoffnung und sozialer Wirklichkeit aufwirft.

Weitere Informationen

Hier finden sich noch weitere Informationen zu diesem Gedicht und der Seite.

Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.