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Der Winter

Von

Der glückliche Bewohner
Des gleichenlosen Quito,
Dem, eh′ hier tausend Rosen
Verblühn, dort tausend andre
Die Blumenkelche öffnen
Dem jede Sonne neue
Und köstlichere Früchte
Zur Reife bringt im Schooße
Der Erd′, im Raum der Lüfte;
Dem jede Morgenröthe
Ein Heer von Schmetterlingen,
Mit zauberischen Farben
Geschmücket, ringsher sendet,
Und jede Abendröthe
Die festlichen Gesänge
Ertönen läßt von tausend
Tonreichen Nachtigallen;
Er wird des ew′gen Frühlings
Der Heimath manchmal müde.
O der Natur verwöhntes,
Und unzufriednes Schooßkind,
Weil sie dir alle Wünsche
Im Übermaß erfüllet,
Könnt′ ich, nur einen Tag lang,
In deiner Götterwiege
Mich freudetrunken schaukeln!
Und du, komm auf den Flügeln
Des Sturms, auf einen Tag nur,
An meines Vaterlandes
Dem Pole nahe Gränze!
Zur Mittagsstunde siehest
Du um dich her kaum Dämmrung.
Kein Laut von einem Vogel!
Kein Duft von einer Blume!
Kein Murmeln einer Quelle!
Kein Fußtritt eines Menschen!
Sechs Monde lang umkreis′te
Den Himmelsrand die Sonne,
Dann ging die Sonne unter,
Um nimmer aufzugehen,
Es stirbt hier selbst die Sonne.
Es schlummert alles Leben,
Wie Todte in dem Grabe,
Tief unter einer starren
Gränzlosen Eisesrinde.
Du bebest? Harr′ ein Weilchen,
Und du wirst noch bewundern! …
Siehst du im hohen Norden
Dies ungeheure, rege,
Stets klarer sich und klarer
Verbreitende Gewebe
Von rosigen und weißen
Und grünen Diamanten,
Gleich einem prunken Fächer,
Den halben Himmel decken?
Siehst du vom Horizonte,
Gleich einem reichen Saume
Von lichten Franzen, oder
Gleich einer Ähre Stacheln,
Belebte Strahlenbündel
In Menge sich erheben? …
Warst du vielleicht, o Sonne,
Beherrscherin des Weltalls,
Es endlich müde, ewig
Im Osten auf- und ewig
Im Westen frohnweis unter
Zu gehn, ein Spott dir selber,
Und zaubertest mit einem
Allmächt′gen Winke Dämmrung
Und Morgenroth nach Norden,
Um den erstaunten Süden
Zum erstenmal am Abend
Mit Purpur zu umhängen? …
Ja, glücklichere Kinder
Gemäßigterer Zonen,
Es ließ der Herr der Schöpfung
Auch uns, am Pol Geborne,
Nicht ohne manche Freude,
Um die ihr uns beneidet!

Gedicht als Bild, zum Downloaden und Teilen

Gedicht: Der Winter von Elisabeth Kulmann

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Der Winter“ von Elisabeth Kulmann ist eine poetische Gegenüberstellung zweier extremer Klimazonen, um die Wertschätzung für die Vielfalt der Natur und die relative Zufriedenheit mit den eigenen Lebensbedingungen zu fördern. Es beginnt mit der Beschreibung des paradiesischen Zustands in Quito, wo ewiger Frühling herrscht und Überfluss an Schönheit und Leben die Bewohner verzaubert.

Kulmann kontrastiert diese Idylle mit der kargen, lebensfeindlichen Welt des Nordpols, wo die Sonne sechs Monate lang den Horizont umkreist, bevor sie ganz untergeht und alles Leben im eisigen Schlaf erstarrt. Diese düstere Szenerie wird jedoch nicht als bloße Negation dargestellt, sondern als Möglichkeit der Kontemplation und der Wertschätzung des Besonderen. Die Autorin lenkt den Blick auf die Schönheit des Polarlichts, ein „ungeheures, rege, stets klarer sich und klarer verbreitende Gewebe von rosigen und weißen und grünen Diamanten“, das den Himmel bedeckt.

Die Gegenüberstellung des Überflusses und des Mangels dient dazu, die Perspektive zu verschieben. Während der Bewohner Quitos möglicherweise des ewigen Frühlings müde wird, erlebt der Betrachter der Polarlandschaft eine andere Art von Schönheit und Erstaunen. Die Autorin hinterfragt die vermeintliche Einseitigkeit von Glück und Leid und betont, dass selbst in scheinbar ungünstigen Umgebungen einzigartige Freuden zu finden sind. Dies wird durch die direkte Ansprache eines imaginären Zuhörers verstärkt, der die Welt des Nordens aus der Perspektive des Südens betrachten soll.

Die abschließende Zeile „Ja, glücklichere Kinder gemäßigterer Zonen, es ließ der Herr der Schöpfung auch uns, am Pol Geborne, nicht ohne manche Freude, um die ihr uns beneidet!“ ist der Kern der Botschaft. Sie betont, dass auch die am Pol geborenen Menschen ihr eigenes Glück erfahren und dass dieses Glück nicht unbedingt quantifizierbar oder vergleichbar ist. Das Gedicht plädiert für die Wertschätzung der eigenen Lebensumstände und die Fähigkeit, Schönheit in den unterschiedlichsten Erscheinungen der Natur zu erkennen.

Weitere Informationen

Hier finden sich noch weitere Informationen zu diesem Gedicht und der Seite.

Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.