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Der Ungläubige

Von

Sie hatten ihn in seinem Sessel sacht
ans Fenster hingerollt.

Die Sonne sank;
auf allen Gärten lag ein Purpurschimmer,
ein strahlend Licht, das jede Kreatur
mit einem goldnen Heiligenschein umwob.
Von Duft berauschte, laue Abendwinde
erhoben sich und brausten durch die Bäume,
und spielten mit dem Schnee der jungen Blüten,
und sträubten kleiner Vögel zart Gefieder,
daß sie mit Jauchzen in das Rot sich stürzten …

Der Kranke sah mit weichem Blick hinaus
und faltete die abgezehrten Hände.
»O Gott, du großer, mächtiger Herr und Meister
des Wunderwerkes Welt, du hoher Künstler,
der Frühlinge wie junge Rosen flicht
ums altersgraue Haupt der Ewigkeit,
der in den schwarzen Aether güldene Bälle
hinzauberte, damit sich seine Augen
am Farbenspiel ergötzen, der Musik
in grüne Wälder goß, die Purpurmeere
mit Perlen und mit köstlich reichem Luxus
erfüllte, der den dunklen Schooß der Erde
mit Gold- und Silberschätzen schmückte, du,
du großer Bildner, Hingerissener
von deinen Schöpfungsplänen, du Jehova,
Unauszusprechender, wie, befaßtest
dich mit dem deiner Kreaturen? ..
Du wüßtest, wenn von meinem Haupt ein Haar
zu Boden fällt, wenn Kränkung meine Brust
erschütterte, wenn meine Wünsche eitel,
mein Traum und Hoffen trog?

Du der Gewaltige,
der Große? Ach! du kennst mein Kümmern nicht,
kennst nicht den Schrei, der oftmals meinem Mund
in dunkler Leidensstunde sich entringt.
Wie sollt auch … und ich! Vermessenheit,
nach dir zu nennen jene Eintagsfliege,
den Menschen …«

Draußen waren finster worden
die lichten Gärten. Einsam lag der Kranke.
Er wollte rufen, schreien .. doch sein Odem,
wie ein erfroren Vöglein, blieb ganz stumm
in seiner toten Brust.

Ein hoher Jüngling,
mit langen Schwingen, neigte sich auf ihn
und nahm von seinen Lippen seine Seele.
»Du gar zu demütig Bescheidne du,
komm mit zum Herrn!«

Und in die weichen Flügel
die scheue Seele hüllend, steigt er auf
in einen unabsehbar weiten Saal.
Milliarden schöner lichtumflossner Menschen,
durchsichtig wie die Luft und schlank wie Blumen,
von denen Jeder eine Krone trägt,
umringen Einen.

Furchtbar ist sein Antlitz,
und unbewegt der starren Schläfe Erz.
Doch Brüste, wie sie eine Mutter hat,
verkünden seiner Gnade rinnend Mitleid.

Er blickt die Seele an …

»O Frevlerin
aus zager Demut! Wär ich, der ich bin,
wenn ich nur Großes faßte, Herrliches,
das mir verwandt?

daß sie, die Welten baut, des Wurmes Nerven
in ihren Fingern spürt, daß sie das Rollen
der Sonnen nicht verhindert, zu vernehmen
den Flügelschlag des Schmetterlings.

Hier komm
und trinke Wissen, Kraft und Schönheit, trinke
mein Blut, das deins ist.

Da entfalten sich
der heiligen Scharen goldne Schwingen rings;
ein jauchzendes Tedeum braust gewaltig
durch alle Himmel.

Gnadeüberwältigt
hinstürzt die Seele an die Brust des Herrn.

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Gedicht: Der Ungläubige von Maria Janitschek

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Der Ungläubige“ von Maria Janitschek ist eine tiefgründige Auseinandersetzung mit dem Thema des Glaubens, der Zweifel und der letztendlichen Erleuchtung. Es beschreibt die innere Zerrissenheit eines Kranken, der im Angesicht des Todes seine Glaubensvorstellungen hinterfragt und schließlich eine transformative Erfahrung macht.

Im ersten Teil des Gedichts wird die äußere Situation des Kranken geschildert, der am Fenster liegend den Sonnenuntergang betrachtet. Die prächtigen Farben der Natur, die „goldnen Heiligenschein“ und der Duft der Abendwinde erwecken in ihm den Wunsch nach einer direkten Ansprache Gottes. Doch seine Ansprache an Gott, die als „großer Bildner“ bezeichnet wird, ist von Zweifeln geprägt. Er fragt, ob Gott, der Schöpfer der Welt, sich überhaupt um die kleinen Sorgen und Leiden der Menschen kümmert. Diese Skepsis gipfelt in der Erkenntnis seiner eigenen Bedeutungslosigkeit im Vergleich zur Größe Gottes, was ihn in eine tiefe Verzweiflung stürzt.

Der zweite Teil des Gedichts markiert eine entscheidende Wendung. Der Kranke stirbt, und ein Engel erscheint, um seine Seele in den Himmel zu führen. Dort erfährt er eine überraschende Begegnung mit Gott selbst, der ihn mit großer Gnade empfängt. Gott, der zuvor als fern und unnahbar erschien, offenbart sich nun als Wesen von unendlichem Mitgefühl und Verständnis. Er tadelt die „zage Demut“ des Ungläubigen und erklärt, dass wahre Größe auch die Fähigkeit beinhaltet, die kleinsten Details der Schöpfung wahrzunehmen und zu lieben.

Die Botschaft des Gedichts ist klar: Der wahre Glaube ist nicht durch starre Konventionen oder Zweifel geprägt, sondern durch die Akzeptanz der Komplexität und Widersprüchlichkeit des Lebens. Gott wird hier nicht als unnahbarer Richter dargestellt, sondern als liebender Schöpfer, der sich um seine Geschöpfe kümmert, auch um die, die zweifeln. Das Gedicht endet mit einer ergreifenden Szene der Gnade und Versöhnung, in der die Seele des Ungläubigen von der Liebe Gottes überwältigt wird. Es ist eine Hymne auf die unendliche Gnade, die selbst die größten Zweifel überwinden kann und eine tiefe Sehnsucht nach der Annahme von Vertrauen und Liebe in der Welt erweckt.

Weitere Informationen

Hier finden sich noch weitere Informationen zu diesem Gedicht und der Seite.

Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.