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Der späte Gast

Von

Was klopft ans Tor? Über die rote Heide
geht nur mein Sohn und ich, wir beide.
Wir beide wohnen in der Wildnis allein,
mein Sohn schläft dort im Kämmerlein.
Keinen Kobold laß ich zur Tür herein.

»Mutterlein! nimm mich ins kleine Haus,
draußen weht es so kalt, draußen weht es so graus.
Oft schon kreuzt′ ich die rote Heide,
oft schon sahen wir uns beide,
kein Kobold ich, tu nichts zu Liede.«

Denn bist du ein Irrwisch und locktest ins Moor
meine Tochter, als ich das Kind verlor.
Im Schilf, das dort am Felsen gränzt,
da tanzt mein Kind, wenn der Mond drauf glänzt,
du magst bei ihm schlafen, du hässlich Gespenst.

»Ich kann nicht schlafen auf welkem Gras,
von Tau und Regen ist′s kalt, von Tau und Regen ist′s naß.
Ich bin kein Irrwisch, ich bin dir verwandt,
deine Tochter hab′ ich Schwester genannt
und hab′ sie gewarnt vor des Sumpfes Rand.«

Verwandt ist mir niemand, niemand wert,
ich steh′ allein hier an meinem Herd.
Den Fremden empfinge des Hundes Gebell,
dem Blutsfreund, spräng′er entgegen schnell,
nun starrt er zitternd auf eine Stell.

»Mutter, der alte Hund kannte bald die Stimme,
die draußen im Dunkel schallt.
Er hatte schon sieben Jahr mich gekannt,
seit ich ihn drüben am Kreuzweg fand.
Mutter, ich bin dir so nah, so nah verwandt.«

Was hast du mich spät in der Nacht geweckt?
Was hast du im Schlummer die Mutter geschreckt?
Was schläfst du nicht ruhig im Kämmerlein?
Was spukest du draußen im Mondesschein?
Mein Sohn kanns ja nur draußen sein.

„Mutter, dein Sohn steht draußen nicht,
aber mich brachte dein Schoß ans Licht.
Noch schläft dein Sohn im Kämmerlein,
aber ich schwebe im Mondesschein
und will so gern zu dir hinein.“

Mein Sohn, du stehst so nahe bei mir,
warum öffnest du selber dir nicht die Tür?
Leicht Flechtwerk ist sie von Elsenwald,
und draußen weht der Wind so kalt,
o komm ins warme Kämmerlein bald!

»Mutter, ich stehe sehr weit von dir,
öffnen kann ich nicht mehr die Tür!
Selbst wie der Wind bin ich leicht und schwacht,
komm nie mehr unter dein warmes Dach,
drum gib mir draußen ein kalt Gemach!«

Ich öffne geschwind, mein liebes Kind.
Wo bist du? Es saust vorbei der Wind.
»Der Wind weht fort mich, Mütterlein!«
O weh! da liegt im Kämmerlein mein Sohn,
blaß wie der Mondenschein.

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Gedicht: Der späte Gast von Willibald Alexis

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Der späte Gast“ von Willibald Alexis entfaltet eine schaurige Ballade, die von Verlust, Schuld und der unheimlichen Begegnung mit dem Übernatürlichen erzählt. Im Zentrum steht eine Mutter, die einsam mit ihrem Sohn in der Wildnis lebt und Besuch von einer mysteriösen Gestalt erhält, die an ihre Tür klopft. Die anfängliche Angst und Abwehrhaltung der Mutter weicht allmählich der Erkenntnis, dass es sich um den Geist ihrer verstorbenen Tochter handeln könnte.

Die Dialoge zwischen der Mutter und dem nächtlichen Besucher sind von Misstrauen und Schmerz geprägt. Die Mutter vermutet zunächst einen Kobold oder Irrwisch hinter der Tür, der für den Tod ihrer Tochter verantwortlich sein könnte. Doch die Worte des Gastes, der sich als „verwandt“ und Schwester der Verstorbenen bezeichnet, säen Zweifel in ihrem Herzen. Besonders die Reaktion des Hundes, der den Fremden erkennt, verstärkt die Unsicherheit der Mutter und deutet auf eine tiefere Verbindung hin.

Der Wendepunkt des Gedichts liegt in der Offenbarung, dass der Sohn der Mutter noch im Kämmerlein schläft, während die Stimme draußen behauptet, ihr Kind zu sein. Dies deutet auf eine übernatürliche Erscheinung hin, einen Geist oder eine Projektion der verlorenen Tochter. Die Mutter öffnet daraufhin die Tür, doch anstelle ihrer Tochter findet sie nur den Wind vor. Die tragische Entdeckung ihres blassen, leblosen Sohnes im Kämmerlein enthüllt die grausame Wahrheit: Der nächtliche Gast war der Todesbote, der ihren Sohn geholt hat.

Die düstere Atmosphäre des Gedichts wird durch die Verwendung von Naturbildern wie der „roten Heide“, dem „Mondesschein“ und dem „kalten Wind“ verstärkt. Diese Elemente unterstreichen die Isolation der Mutter und die Unbarmherzigkeit des Schicksals. Die Ballade endet mit einem Gefühl der Verzweiflung und des unausweichlichen Verlustes, das die Mutter in ihrer Einsamkeit zurücklässt. Die Vermischung von Realität und Übernatürlichem, gepaart mit der Tragik des Mutter-Kind-Verhältnisses, verleiht dem Gedicht seine nachhaltige Wirkung.

Weitere Informationen

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Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.