Der Schizophrene
Ein Opfer der Zerstückung, ganz besessen
Bin ich – wie nennt ihr′s doch? – ein Schizophrene.
Ihr wollt, daß ich verschwinde von der Szene,
Um euren eigenen Anblick zu vergessen.
Ich aber werde eure Worte pressen
In des Sonettes dunkle Kantilene.
Es haben meine ätzenden Arsene
Das Blut euch bis zum Herzen schon durchmessen.
Des Tages Licht und der Gewohnheit Dauer
Behüten euch mit einer sichern Mauer
Vor meinem Aberwitz und grellem Wahne.
Doch plötzlich überfällt auch euch die Trauer.
Es rüttelt euch ein unterirdischer Schauer
Und ihr zergeht im Schwunge meiner Fahne.
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Der Schizophrene“ von Hugo Ball präsentiert eine düstere Auseinandersetzung mit dem Thema der psychischen Zerrissenheit und der Isolation des Individuums. Der Titel selbst etabliert den Fokus auf eine schizophrene Person, die sich als Opfer der Zerstückung fühlt und deren Existenz von der Umgebung als störend empfunden wird. Die ersten vier Verse etablieren eine klare Trennung zwischen dem lyrischen Ich und einer „ihr“-Gruppe, die versucht, den Dichter zum Verschwinden zu bewegen, um die eigene Realität nicht zu hinterfragen. Der Autor zeigt sich hier als Außenseiter, der durch seine Andersartigkeit zur Bedrohung wird.
Im zweiten Quartett eskaliert die Bedrohung, die von der Person ausgeht. Die „Worte“ des lyrischen Ichs werden zu einer „dunklen Kantilene“, was auf die Macht der Poesie und die Fähigkeit, die Realität zu verändern, hindeutet. Die „ätzenden Arsene“ (Arsen) des Ichs durchdringen die „ihr“-Gruppe, was als eine Metapher für die Zersetzungskraft der psychischen Erkrankung gedeutet werden kann. Diese Zeilen deuten auf die tiefe Beeinflussung hin, die der Schizophrene auf sein Umfeld ausübt, und legen den Fokus auf die Auswirkungen der psychischen Krankheit auf die Menschen. Die Verwendung von Begriffen wie „ätzend“ verstärkt diesen Eindruck und erzeugt eine beunruhigende Atmosphäre.
Die dritte Strophe lenkt den Blick auf das Schutzschild, das die Gesellschaft vor dem Wahnsinn des Dichters errichtet. „Des Tages Licht und der Gewohnheit Dauer“ bilden eine Mauer, die versucht, den „Aberwitz“ und „grellen Wahne“ zu verbergen. Dieses Bild verdeutlicht die gesellschaftliche Tendenz, psychische Erkrankungen zu verdrängen und zu ignorieren, anstatt sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Der Autor verdeutlicht, dass diese scheinbare Sicherheit jedoch trügerisch ist.
Das abschließende Sextett kehrt die Rollen um und prophezeit eine unerwartete Wendung. Die „Trauer“ überfällt nun die „ihr“-Gruppe, ausgelöst durch einen „unterirdischen Schauer“. Das Bild der „Fahne“ des Schizophrenen, in deren Schwung sie vergehen, deutet auf die Übertragung der Zerrissenheit hin. Das Gedicht endet also nicht mit der Auslöschung des Schizophrenen, sondern mit der Verbreitung seiner psychischen Zerrissenheit, die sich schließlich in der Welt ausbreitet. Dies ist eine radikale Aussage über die universelle Natur von Leid und die Unvermeidlichkeit der menschlichen Zerbrechlichkeit.
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Lizenz und Verwendung
Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.