Der Scheidenden
Aus dem Tempel willst du fliehen,
Den dir hier die Liebe baut?
Meinen Armen dich entziehen,
Meines Geistes holde Braut?
Richtest du nach deiner Heimat,
Pilgerin, den müden Lauf?
Fleuchst du schon in deinen Himmel,
Schöner Engel, wieder auf?
Nein, du weilest noch hienieden
Voll erhabner Gottesruh,
Trägst den Himmel und den Frieden
Nun entfernten Fluren zu;
Willst dem Kranken Labung spenden,
Den der Himmel dir vertraut,
Willst des Lebens dich erfreuen,
Das aus deinen Blicken thaut.
Folge denn der schönen Sendung,
Folge nur des Geistes Ruf,
Der zur Krone der Vollendung
Dich mit solcher Schönheit schuf!
Mag ein Andrer deiner Nähe,
Deines Strahles sich erfreun, –
Ach! die Liebe kann entsagen,
Und entsagend selig sein.
Schweigen sollen alle Klagen,
Und kein treuer Zephyr soll
Diesen Seufzer zu dir tragen,
Welcher hier der Brust entquoll.
Näher, unaussprechlich näher
Bist du doch, Entfernte, mir,
Und im Geisterreiche schweiget
Jede stürmische Begier.
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Der Scheidenden“ von Max von Schenkendorf ist eine tiefgründige Auseinandersetzung mit dem Abschied, der Trennung und der Akzeptanz. Es zeichnet das Bild einer geliebten Person, die sich von dem Sprecher entfernt, sei es im physischen oder im übertragenen Sinne. Die ersten Strophen drücken zunächst den Schmerz und die Ungläubigkeit über diesen Abschied aus, gefolgt von einer allmählichen Akzeptanz und der Erkenntnis, dass wahre Liebe auch im Loslassen bestehen kann.
In den ersten beiden Strophen wird die Trennung unmittelbar erfahrbar gemacht. Der Sprecher fragt die Geliebte, ob sie den „Tempel“, den die Liebe errichtet hat, verlassen und sich seinen Armen entziehen will. Der Einsatz von Fragen wie „Fleuchst du schon in deinen Himmel, / Schöner Engel, wieder auf?“ verdeutlicht die Verzweiflung und den Schmerz des Sprechers. Gleichzeitig wird die geliebte Person als „Pilgerin“ und „Engel“ verklärt, was auf ihre spirituelle Reinheit und Erhabenheit hindeutet. Dies deutet an, dass die Trennung möglicherweise nicht von beiden Seiten gewollt ist, sondern durch äußere Umstände oder innere Berufung der Geliebten bedingt ist. Die zweite Strophe zeichnet ein Bild von der Geliebten, die anderen Menschen helfen möchte und daher ihr eigenes Glück hintanstellen muss.
Die dritte Strophe markiert einen Wendepunkt in der Haltung des Sprechers. Er erkennt die „schöne Sendung“ der Geliebten und bejaht ihren Weg. Die Worte „Folge nur des Geistes Ruf“ unterstreichen die Akzeptanz und das Verständnis des Sprechers. Die Liebe des Sprechers ist nun so stark, dass er bereit ist, auf die Nähe zu verzichten, um das Glück der Geliebten zu ermöglichen. Die Zeile „Ach! die Liebe kann entsagen, / Und entsagend selig sein“ ist zentral für die Interpretation des Gedichts und zeigt, dass wahre Liebe nicht an Besitz oder Nähe gebunden ist, sondern im Glück des anderen aufgeht.
Die abschließende Strophe vertieft diese Haltung weiter. Der Sprecher beschließt, die Klagen zu unterdrücken und die Trennung stillschweigend zu akzeptieren. Die Aussage „Näher, unaussprechlich näher / Bist du doch, Entfernte, mir“ deutet an, dass die Geliebte durch die Trennung nicht aus seinem Herzen verschwunden ist, sondern auf einer spirituellen Ebene noch präsenter ist. Im „Geisterreiche“ – also im Reich der Seele und der Erinnerung – verstummt jede „stürmische Begier“. Dies bedeutet, dass der Sprecher die sinnliche Leidenschaft hinter sich lässt und sich auf die tiefe, spirituelle Verbundenheit konzentriert, die durch die Trennung sogar verstärkt wird. Insgesamt ist das Gedicht eine Ode an die transzendente Kraft der Liebe, die über die körperliche Anwesenheit hinausreicht und in der Entsagung ihre höchste Vollendung findet.
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Lizenz und Verwendung
Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.