Sag′ mir, o lieber Kukuk,
Warum macht deine Stimme,
Die ich so gerne höre,
Mich jedesmal so traurig?
Wenn andre Vögel singen,
So horch′ ich freudig ihrem
Lauttönenden Gesange;
Doch geh′ ich meines Weges.
Hör′ aber deine Stimme
Ich nahe oder ferne
Ertönen; unwillkührlich
Bleib′ ich dann stehn, und (dieses
Sagt′ einmal mir die Mutter)
Es drücken meine Züge
In sonderbarer Mischung
Entzücken aus und Trauer.
Ich habe zweimal, weil man
Es so von mir verlangte,
Und ich vor den Gespielen
Nicht furchtsam scheinen wollte,
Dich um die Zahl der Jahre
Gefragt, die mir der Himmel
Auf Erden zu verleben
Bestimmt. Nach deiner Antwort
Würd′ ich′s auf hundert Jahre
Und mehr vielleicht noch bringen.
Dem ungeachtet aber
Bemächtiget sich meiner
Ein Schauder, den ich mir nicht
Erklären kann. Sag′, guter
Geliebter Vogel, werde
Ich wirklich lange leben?
Mir ahnet oft, ich werde
Nicht lange auf der Erde
Verweilen, und schon frühe
Den Brüdern folgen, welche
Die Erde früh verließen,
Ach! auf dem öden Schlachtfeld
Vielleicht in langen Leiden
Den jungen Geist aushauchend!
Der Kukuk
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Der Kukuk“ von Elisabeth Kulmann ist eine tiefgründige Reflexion über die Vergänglichkeit des Lebens, die durch die symbolische Figur des Kuckucks ausgelöst wird. Die Ich-Erzählerin, vermutlich ein junges Mädchen, stellt die Frage nach dem Grund ihrer Traurigkeit, die durch den Gesang des Kuckucks hervorgerufen wird. Anders als bei anderen Vogelgesängen, die Freude bereiten, erzeugt die Kuckucks-Stimme ein Gefühl der Melancholie, eine Mischung aus Entzücken und Trauer.
Der zentrale Aspekt des Gedichts ist die Frage nach der Lebensdauer. Die Ich-Erzählerin, die sich von der Mutter hat erzählen lassen, dass der Kuckucksruf als Omen für die Lebensjahre gelte, stellt dem Vogel die Frage nach ihrer Lebenserwartung. Die Antwort deutet auf ein langes Leben hin. Trotzdem wird die Ich-Erzählerin von einem unheimlichen Schauder erfasst, der ihre Befürchtungen und Ahnungen aufdeckt.
Die eigentliche Tragik liegt in der Vorahnung eines frühen Todes. Die Ich-Erzählerin hegt den Verdacht, nicht lange auf Erden zu weilen und ihren früh verstorbenen Brüdern zu folgen. Diese Brüder sind durch den Krieg ums Leben gekommen, möglicherweise auf dem Schlachtfeld, wo sie „in langen Leiden“ ihren jungen Geist aushauchten. Damit verbindet das Gedicht die individuelle Angst vor dem Tod mit dem kollektiven Trauma des Krieges und der damit verbundenen Verluste.
Die sprachliche Gestaltung des Gedichts spiegelt die Gefühlswelt der Ich-Erzählerin wider. Die Fragen an den Kuckuck, der als Vermittler zwischen der Welt der Menschen und einer mystischen Sphäre fungiert, verdeutlichen die Unsicherheit und das Nachdenken über die Zukunft. Die einfachen Worte und der direkte Tonfall verstärken die Authentizität und die emotionale Wirkung des Gedichts. Die wiederholte Frage nach dem Leben, in Verbindung mit der dunklen Vorahnung des Todes, machen „Der Kukuk“ zu einem ergreifenden Werk über Angst, Hoffnung und die Unvermeidlichkeit des Schicksals.
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