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Der König

Von

Der König ist sechzehn Jahre alt.
Sechzehn Jahre und schon der Staat.
Er schaut, wie aus einem Hinterhalt,

vorbei an den Greisen vom Rat
in den Saal hinein und irgendwo hin
und fühlt vielleicht nur dies:
an dem schmalen langen harten Kinn
die kalte Kette vom Vlies.

Das Todesurteil vor ihm bleibt
lang ohne Namenszug.
Und sie denken: wie er sich quält.

Sie wüßten, kennten sie ihn genug,
daß er nur langsam bis siebzig zählt
eh er es unterschreibt.

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Gedicht: Der König von Rainer Maria Rilke

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Der König“ von Rainer Maria Rilke ist eine eindringliche Momentaufnahme der inneren Zerrissenheit eines jungen Herrschers, der mit den Lasten der Macht konfrontiert wird. Das Gedicht ist kurz, aber voll von Andeutungen und Symbolen, die eine tiefere Bedeutungsebene eröffnen. Der König wird als sechzehnjährig beschrieben, ein Alter, das gleichzeitig Jugendlichkeit und Verantwortung impliziert. Er ist bereits mit dem Staat, also der höchsten Macht, betraut.

Rilke zeichnet das Bild eines Königs, der sich von den alten, weisen Männern im Rat distanziert. Der Blick des Königs, der „wie aus einem Hinterhalt“ beschrieben wird, deutet auf eine gewisse Isolation und Distanzierung hin. Er „schaut … in den Saal hinein und irgendwo hin“ – ein Ausdruck von Leere und Unentschlossenheit. Seine Aufmerksamkeit scheint sich vor allem auf das Äußere zu konzentrieren, auf die „kalte Kette vom Vlies“, die er am Kinn spürt, und weniger auf die eigentlichen Entscheidungen und Verantwortungen, die mit seinem Amt verbunden sind.

Das Todesurteil, das vor ihm liegt, symbolisiert die Unausweichlichkeit des Schicksals und die Schwere der Entscheidungen, die er treffen muss. Die Tatsache, dass das Urteil „lang ohne Namenszug“ bleibt, unterstreicht die Zögerlichkeit und die innere Auseinandersetzung des Königs. Die „Greisen vom Rat“ interpretieren sein Zögern als Qual, doch das Gedicht deutet an, dass die Wahrheit komplexer ist.

Die letzten beiden Zeilen enthüllen die wahre Natur des Königs. Er zählt langsam, bis er siebzig ist, bevor er unterschreibt – was nicht nur eine Anspielung auf seine Jugend und Unerfahrenheit darstellt, sondern auch auf eine tiefere Angst vor dem Tod. Er wartet, verzögert die unvermeidliche Entscheidung, die er treffen muss. Die Verwendung des Wortes „zählen“ deutet auch auf einen inneren Kampf und die Suche nach dem eigenen Platz in der Welt hin. Das Gedicht fängt somit die Zerrissenheit und das Dilemma des jungen Königs ein, der zwischen Pflichtgefühl und innerer Unruhe gefangen ist.

Weitere Informationen

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Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.