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Der Brief aus der Heimat

Von

Sie saß am Fensterrand im Morgenlicht
und starrte in das aufgeschlagne Buch;
die Zeilen zählte sie und wußt′ es nicht,
ach weithin, weithin der Gedanken Flug!
Was sind so ängstlich ihre nächt′gen Träume?
Was scheint die Sonne durch so öde Räume?
– Auch heute kam kein Brief, auch heute nicht.

Seit Wochen weckte sie der Lampe Schein,
hat bebend an der Stiege sie gelauscht;
wenn plötzlich am Gemäuer knackt der Schrein,
ein Fensterladen auf im Winde rauscht, –
es kommt, es naht, die Sorgen sind geendet!
Sie hat gefragt, sie hat sich abgewendet
und schloß sich dann in ihre Kammer ein.

Kein Lebenszeichen von der liebsten Hand,
von jener, die sie sorglich hat gelenkt,
als sie zum erstenmal zum festen Stand
die zarten Kinderfüßchen hat gesenkt;
versprengter Tropfen von der Quelle Rande,
harrt sie vergebens in dem fremden Lande;
die Tage schleichen hin, die Woche schwand.

Was ihre rege Phantasie geweckt?
Ach, eine Leiche sah die Heimat schon,
seit sie den unbedachten Fuß gestreckt
auf fremden Grund und hörte fremden Ton;
sie küßte scheidend jung′ und frische Wangen,
die jetzt von tiefer Grabesnacht umfangen;
ist′s Wunder, daß sie tödlich aufgeschreckt?

In Träumen steigt das Krankenbett empor,
und Züge dämmern wie in halber Nacht;
wer ist′s? – sie weiß es nicht und spannt das Ohr,
sie horcht mit ihrer ganzen Seele Macht;
dann fährt sie plötzlich auf im Windesrauschen
und glaubt dem matten Stöhnen noch zu lauschen
und kann erst spät begreifen, daß sie wacht.

Doch sieh, dort fliegt sie übern glatten Flur,
ihr aufgelöstes Haar umfließt sie rund,
und zitternd ruft sie mit des Weinens Spur:
»Ein Brief, ein Brief, die Mutter ist gesund!«
Und ihre Tränen stürzen wie zwei Quellen,
die übervoll aus ihren Ufern schwellen;
ach, eine Mutter hat man einmal nur!

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Gedicht: Der Brief aus der Heimat von Annette von Droste-Hülshoff

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Der Brief aus der Heimat“ von Annette von Droste-Hülshoff ist eine ergreifende Darstellung der Sehnsucht nach der Heimat und der Angst vor dem Verlust, die eine junge Frau in einem fremden Land quält. Das Gedicht zeichnet das innere Erleben der Protagonistin nach, die sich nach Nachrichten von ihrer Familie sehnt, insbesondere nach einem Lebenszeichen von ihrer Mutter. Die eindringlichen Bilder und die emotionale Tiefe lassen den Leser an ihrem Leid teilhaben.

Die zentrale Thematik des Gedichts ist die quälende Ungewissheit, die durch die Abwesenheit eines Briefes aus der Heimat entsteht. Die Frau wird als einsam und ängstlich dargestellt, gefangen in ihrer Sehnsucht. Ihre Gedanken schweifen weit in die Ferne, während sie im Morgengrauen am Fenster sitzt und auf einen Brief wartet. Die wiederholte Phrase „Auch heute kam kein Brief, auch heute nicht“ unterstreicht ihre Verzweiflung und die schmerzliche Wiederholung des Enttäuschungsmoments. Ihre ständige Aufmerksamkeit auf Geräusche und Bewegungen, die eine mögliche Ankunft eines Briefes signalisieren könnten, verdeutlicht ihre innere Unruhe.

Droste-Hülshoff nutzt eine Reihe von poetischen Bildern, um das seelische Befinden der Frau zu veranschaulichen. Die Vision einer Leiche aus der Heimat, die sie in ihren Träumen heimsucht, zeugt von ihrer tiefen Angst vor dem Tod und dem Verlust ihrer Liebsten. Die Vorstellung von einem Krankenbett und dem matten Stöhnen, das sie in ihren Träumen hört, deutet auf eine mögliche Erkrankung ihrer Mutter hin und verstärkt ihre Sorge. Die Natur, wie der Wind, der durch die Fenster rauscht, spiegelt ihre innere Unruhe wider.

Der Umschwung am Ende des Gedichts, als die Frau in einem imaginären Glücksgefühl einen Brief erhält, offenbart ihre tiefsten Hoffnungen und Sehnsüchte. Die Vorstellung, dass ihre Mutter gesund ist, löst einen freudigen Gefühlsausbruch aus, der in den Tränen der Erleichterung gipfelt. Die Zeile „ach, eine Mutter hat man einmal nur!“ verdeutlicht die unersetzliche Bedeutung der mütterlichen Bindung. Das Gedicht endet mit einem bittersüßen Nachklang, der die Zerrissenheit zwischen Hoffnung und Realität, zwischen der Sehnsucht nach der Heimat und der Angst vor dem Verlust einfühlsam vermittelt.

Weitere Informationen

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Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.