Das Thor
Aus schwarzem Marmor fügten sie vornacht das Thor
und eines seltnen Stolzes Inschrift gruben sie
auf seine Stirn. Es drängten die Jahrhunderte
an diesen Pfosten sich vorbei, das Haus zerfiel,
das Thor bestand – heut öffnet es die Flügel weit.
Auf diesen alten Schwellen lag manch träger Staub –
heut aber sollen braundurchwobne Purpurdecken
die grauen Quadern tauchen in den Strom der Seide
und einer Herrin wunderzarte Füsse sollen
die grossen Wandelsteine scheu auftretend segnen …
Es träumt der Herbst sein reiches Fest. Es herrscht am See
der weissen Chrysanthemen spätgeborne Pracht
und jener dunkelrothen Blätter Überfluss,
der wie ein Mantel auf den morschen Mauern liegt –
Wo die Cypressen dort im Abendlichte glühn,
erscheint ihr Grün von Fäden dunklen Golds durchwirkt …
Die reinen Stufen schreit ich Fragender hinab.
Gedicht als Bild, zum Downloaden und Teilen

Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Das Thor“ von Otto Erich Hartleben beschreibt die Veränderung eines Tores, das über die Jahrhunderte hinweg Bestand hatte, und seine Öffnung für eine neue Zeit. Das Gedicht ist in drei Abschnitte unterteilt, die jeweils ein anderes Bild und eine andere Stimmung vermitteln. Der erste Abschnitt konzentriert sich auf die Errichtung und die Langlebigkeit des Tores, der zweite auf dessen gegenwärtige Funktion und der dritte auf die Atmosphäre des Herbstes und die Ankunft des Sprechers.
Im ersten Abschnitt wird das Tor als ein Bauwerk aus schwarzem Marmor beschrieben, das in der „Vornacht“ (der Vergangenheit) errichtet und mit einer stolzen Inschrift versehen wurde. Die Betonung der Langlebigkeit des Tores, das „Bestand“, während das „Haus zerfiel“, deutet auf seine monumentale Bedeutung hin. Die Formulierung „Es drängten die Jahrhunderte / an diesen Pfosten sich vorbei“ vermittelt den Eindruck eines stetigen Wandels, der das Tor jedoch unberührt lässt. Die Zeile „heut öffnet es die Flügel weit“ signalisiert eine plötzliche Veränderung, ein Aufbruch in eine neue Ära.
Der zweite Abschnitt beschreibt die neue Verwendung des Tores. Die „braundurchwobne Purpurdecken“ und die „Strom der Seide“ symbolisieren Luxus und Prunk. Eine „Herrin“, die das Tor betritt, deutet auf eine Feierlichkeit oder einen besonderen Anlass hin. Die „wunderzarten Füsse“ der Herrin, die „scheu auftretend“ die Steine segnen, verleihen der Szene eine fast sakrale Note. Das Tor, das früher ein stummes Monument der Vergangenheit war, wird nun zum Schauplatz eines Festes und des weiblichen Einflusses.
Der dritte Abschnitt des Gedichts führt eine herbstliche Szenerie ein. Das „reiche Fest“ des Herbstes, die „weissen Chrysanthemen“ und die „dunkelrothen Blätter“ schaffen eine malerische Atmosphäre. Die Beschreibung der Zypressen, deren Grün von „Fäden dunklen Golds durchwirkt“ wird, verstärkt den Eindruck von Reichtum und Vergänglichkeit. Der Sprecher betritt schließlich die Szenerie und „schreitet Fragender“ die „reinen Stufen“ hinab. Dies deutet auf eine Suche nach Verständnis oder einer Antwort auf die vorangegangenen Bilder hin. Hartleben verbindet hier gekonnt die historische Perspektive mit der Natur, dem Fest und der persönlichen Suche.
Hier finden sich noch weitere Informationen zu diesem Gedicht und der Seite.
Lizenz und Verwendung
Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.