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Die Rose von Newport

Von

Sprengende Reiter und flatternde Blüten,
Einer voraus mit gescheitelten Locken –
Ist es der Lenz auf geflügeltem Renner?
Karl ist’s, der Jüngling, der Erbe von England,
Und die sich nähern in goldener Mailuft,
Das sind die Giebel und Tore von Newport,
Drüber das Wappen der Stadt: eine Rose!
Jubelnde Gassen und jubelnde Wimpel
Und ein von treibender Jugend geschwelltes,
Jubelndes Herz in dem Busen des Stuart…
Unter den blühenden Linden des Marktes
Schreitet ein Reigen von blühnden Gestalten,
Und eine Schönste mit herzlichem Beben
Bietet dem Prinzen die Rose von Newport:
„Seliges Gestern und Morgen und Heute,
Herr, dir die Rose von Newport bedeute!“

Morgen erzählen die Linden das Märchen
Von der entblätterten Rose von Newport.

Sprengende Reiter und wirbelnde Flocken,
Einer voraus mit verwilderten Haaren –
Ist es der Winter, der finstre Geselle?
Karl ists, der Flüchtling, der König von England.
Seit er das Blut seines Volkes vergossen,
Reitet er neben zerschmetterndem Abgrund…
Und die sich nähern in weißem Gestöber,
Das sind die Giebel und Tore von Newport,
Drüber das Wappen der Stadt: eine Rose!
Nirgend ein Jubel und nirgend ein Wimpel,
Polternde Hämmer und kreischende Feilen .
Und ein von eisernen Fäusten gepreßtes,
Ächzendes Herz in dem Busen des Stuart…
Unter den frierenden Linden des Marktes
Bettelt ein Kind mit verschatteten Augen,
Bietet dem König ein dorrendes Röschen:
„Seliges Gestern und Morgen und Heute,
Herr, dir die Rose von Newport bedeute!“
Karl, der die Züge des Kindes betrachtet,
Schmal und gespenstig im Spiegel des Elends
Sieht er das eigene Antlitz und schaudert.

Morgen erzählen die Linden das Märchen
Von dem enthaupteten König von England.

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Gedicht: Die Rose von Newport von Conrad Ferdinand Meyer

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Die Rose von Newport“ von Conrad Ferdinand Meyer ist eine balladenhafte, symbolisch aufgeladene Dichtung über Aufstieg und Fall des englischen Königs Karl I. Es entfaltet in zwei kontrastierenden Szenen ein dramatisches Bild menschlicher Größe und Vergänglichkeit, das durch die wiederkehrenden Motive der „Rose von Newport“, der Reiter und der Linden strukturiert wird. Die Gegenüberstellung von Blütezeit und Verfall, von Hoffnung und Scheitern, verleiht dem Text eine starke tragische Spannung.

Im ersten Teil erscheint Karl als jugendlicher Thronfolger, als strahlender Held im Frühling seines Lebens. Die ganze Stadt Newport feiert ihn: Wimpel wehen, Gassen jubeln, unter blühenden Linden tanzt ein Reigen schöner Menschen. Ein Mädchen überreicht ihm eine Rose – ein Symbol für Schönheit, Liebe, Glück und Zukunftshoffnung. Die Geste ist zugleich persönlich und politisch, Ausdruck kindlicher Bewunderung wie auch eines Vertrauensvorschusses an die zukünftige Herrschaft. Die Zeile „Seliges Gestern und Morgen und Heute“ verleiht dem Moment den Anschein einer zeitlosen Harmonie.

Die zweite Szene spiegelt die erste – doch in düsterem Kontrast. Es ist nun Winter, der Jubel ist verstummt, das Blütenmeer gewichen, Karl ist nicht mehr der strahlende Prinz, sondern ein geschlagener König auf der Flucht. Das Volk, dessen Blut er vergossen hat, feiert ihn nicht mehr, sondern arbeitet – durch „polternde Hämmer und kreischende Feilen“ – womöglich an seinem Untergang. Die einst blühenden Linden stehen kahl, und statt eines Mädchens tritt nun ein hungerndes Kind auf, das dem König eine verdorrte Rose reicht – das gleiche Symbol, nun aber Zeichen des Verfalls, der gebrochenen Hoffnungen und der verlorenen Unschuld.

Besonders eindrucksvoll ist der Moment der Spiegelung: In den Zügen des Kindes erkennt Karl sein eigenes Schicksal, sein Scheitern, seine Schuld. Die poetische Kraft liegt dabei nicht nur in der äußeren Bildlichkeit, sondern in der inneren Erkenntnis. Karl sieht sich selbst im Spiegel des Elends – und er schaudert. Das Märchenhafte der ersten Szene schlägt in die düstere Realität der Geschichte um, und die letzte Zeile kündet von der Hinrichtung des Königs: „Morgen erzählen die Linden das Märchen / Von dem enthaupteten König von England.“

„Die Rose von Newport“ ist somit mehr als eine historische Ballade – sie ist ein Sinnbild für die Vergänglichkeit weltlicher Macht und Ruhmes. Durch den Kontrast von Frühling und Winter, von jubelndem Beginn und einsamem Ende, schafft Meyer eine eindrückliche Allegorie über Schuld, Erinnerung und den Wandel menschlichen Schicksals. Die Rose, einst blühend, dann verdorrt, wird zum sprechenden Symbol für alles Irdische – kostbar, aber vergänglich.

Weitere Informationen

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Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.