Stets wandeln wir
Stets wandeln wir dem Abgrund dicht,
Wo Tief und Dunkel schrecken,
Aus dem ein Tod und letzt‘ Gericht
Die Drachenhälse recken!
Wir wandeln, ahnen nicht Gefahr,
So sorglos hin wie Kinder.
Da strauchelst du und gleitest gar
Und gleitest ab geschwinder!
Jetzt gilt’s! Ist keine Latsche da,
An der du dich kannst halten?
Umfassen nicht, dem Sturze nah,
Dich rettende Gestalten?
Humor, so heißt die Latsche schlicht,
Gleich Göttern hochgeboren –
erhaschst du sie im Gleiten nicht,
Dann, Freund, bist du verloren!
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Stets wandeln wir“ von Carl Spitzweg thematisiert die menschliche Existenz als einen gefährlichen Gang entlang eines Abgrunds, der metaphorisch für die Risiken und Unsicherheiten des Lebens steht. Die „Tief und Dunkel“ des Abgrunds symbolisieren Bedrohungen und das Ungewisse, aus dem der „Tod“ und „letzt‘ Gericht“ aufsteigen. Der Abgrund wird von „Drachenhälse[n]“ bewacht, die wie mythische Gefahren erscheinen, die jederzeit zuschlagen könnten. Doch die Wanderer – symbolisch für den Menschen – ahnen diese Gefahr nicht und schreiten „sorglos wie Kinder“ voran, was eine gewisse Naivität und Unachtsamkeit in der Lebensführung beschreibt.
Im weiteren Verlauf des Gedichts kommt es zu einer Wendung, als der Sprecher eine Person beobachtet, die strauchelt und den Abgrund hinuntergleitet. Dies verdeutlicht die unvorhersehbare Wendung des Lebens, in dem der Mensch trotz aller Unbedenklichkeit und „Sorglosigkeit“ in den Abgrund stürzen kann, wenn er nicht aufpasst. Der Sturz steht symbolisch für den Verlust der Kontrolle oder das Fehlen eines Haltens, das für den weiteren Lebensweg entscheidend sein kann. Der Sprecher fragt nun, ob es eine „Latsche“ gibt, an der sich die strauchelnde Person festhalten kann – ein Bild für etwas, das Rettung bietet, wenn der Fall unausweichlich scheint.
Die „Latsche“, die als rettendes Element im Gedicht erscheint, wird schließlich als „Humor“ entlarvt. Humor wird hier als eine überlebenswichtige Eigenschaft dargestellt, die dem Menschen hilft, die widrigen Umstände des Lebens zu überstehen. Die Metapher des „Göttern hochgeboren“ macht klar, dass Humor eine fast göttliche, befreiende Kraft besitzt, die dem Menschen in schwierigen Momenten Kraft und Perspektive verleiht. Das Gedicht warnt davor, diese Fähigkeit zu verlieren: Wenn man „Humor“ nicht erhascht, wird man „verloren“ sein, was eine dramatische Warnung vor der Gefahr ist, das Leben ohne diese lebensrettende Perspektive zu führen.
Insgesamt vermittelt das Gedicht eine wichtige Lebensweisheit – dass der Mensch, obwohl er in der Welt mit all ihren Gefahren und Ungewissheiten wandelt, durch Humor eine Kraft besitzt, die ihm hilft, den Sturz in den Abgrund zu vermeiden und die Herausforderungen des Lebens zu überstehen. Es ist eine Aufforderung, das Leben mit einem gewissen Maß an Leichtigkeit und Humor zu begegnen, um den ständigen Gefahren und der Dunkelheit des Lebens zu trotzen.
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Lizenz und Verwendung
Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.