Bürgerliches Weihnachtsidyll
Was bringt der Weihnachtsmann Emilien?
Einen Strauß von Rosmarin und Lilien.
Sie geht so fleißig auf den Strich!
Oh Tochter Zions, freue dich!
Doch sieh, was wird sie bleich wie Flieder?
Vom Himmel hoch, da komm ich nieder.
Die Mutter wandelt wie im Traum.
O Tannenbaum, o Tannenbaum.
O Kind, was hast du da gemacht?
Stille Nacht, heilige Nacht.
Leis hat sie ihr ins Ohr gesungen:
Mama, es ist ein Reis entsprungen!
Papa haut ihr die Fresse breit.
O du selige Weihnachtszeit!
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Bürgerliches Weihnachtsidyll“ von Klabund ist eine bissige Satire auf die vermeintliche Idylle des bürgerlichen Weihnachtsfestes und enthüllt die dunklen Abgründe hinter der Fassade der familiären Harmonie. Durch einen radikalen Bruch mit der traditionellen Weihnachtslyrik, wie sie etwa in den ersten beiden Strophen noch angedeutet wird, entlarvt das Gedicht Heuchelei, Doppelmoral und häusliche Gewalt.
Die ersten beiden Zeilen des Gedichts, die die Geschenke für Emilien beschreiben, suggerieren zunächst eine klassische, wenn auch leicht ironische Weihnachtsatmosphäre. Der Geschenkeauswahl, Rosmarin und Lilien, die traditionell mit Reinheit assoziiert werden, wird jedoch sofort durch die folgende Zeile konterkariert: „Sie geht so fleißig auf den Strich!“ Diese drastische Aussage entlarvt die wahre Situation von Emilien, die sich prostituiert, und stellt die vermeintliche Unschuld und Reinheit der Szenerie in Frage. Der Ruf nach Freude, „Oh Tochter Zions, freue dich!“, wirkt hier sarkastisch und ironisch, da er die Verlogenheit der religiösen Bezüge und die Doppelmoral der bürgerlichen Gesellschaft hervorhebt.
Die zweite Strophe setzt diesen Bruch fort, indem sie mit der Erwartung himmlischer Botschaften spielt, um die anschließende Enttäuschung zu verstärken. Die Zeile „Vom Himmel hoch, da komm ich nieder“ weckt die Erwartung an die Ankunft des Weihnachtsmanns, wird aber durch die folgende Zeile abgewürgt, als die Mutter wie im Traum wandelt und das vertraute Weihnachtslied zitiert. Diese Gegenüberstellung verstärkt das Gefühl der Desillusionierung und zeigt, wie das vermeintlich heile Familienidyll durch die wahre Situation von Emilien erschüttert wird.
Der letzte Teil des Gedichts ist der Höhepunkt der satirischen Entlarvung. Die Frage nach den Taten des Kindes führt zu einer unheimlichen Auflösung der Weihnachtsstimmung. Emilien ist nun schwanger, was das Ergebnis ihrer Prostitution ist, und das Gedicht verlässt jeglichen Anflug von Harmonie. Der Vater reagiert mit Gewalt, was die häusliche Idylle in einen Moment brutaler Realität verwandelt. Die scheinbare Hoffnung, die durch die Weihnachtslieder geweckt wird, wird durch die Zeile „Papa haut ihr die Fresse breit“ zerstört, und die Ironie gipfelt in dem abschließenden, zynischen Ausruf: „O du selige Weihnachtszeit!“ Das Gedicht endet so mit einem Gefühl des Schocks, das die gesellschaftliche Doppelmoral und die darin verborgene Gewalt offenlegt.
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Lizenz und Verwendung
Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.