Was gestern noch als Wahrheit…
Was gestern noch als Wahrheit hat gegolten,
Ein blinder Irrtum wird es heut gescholten.
Fehl geht, wie oft! des Forschers mühvoll Streben,
Und keine Lösung wird dem Rätsel: Leben.
Der kühnlich ragen will ins Aetherblau,
Wie häufig schwankt des Wissens stolzer Bau!
Nur was der Mund der Poesie verkündet,
Steht fest und sicher in sich selbst begründet
Und bleibt für alle Zeit in voller Kraft –
Sie ist die einz’ge wahre Wissenschaft.
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Was gestern noch als Wahrheit…“ von Betty Paoli beschäftigt sich mit der Fragilität menschlichen Wissens und der Unbeständigkeit von Wahrheiten, die sich über die Zeit hinweg verändern. Zu Beginn wird das Bild einer Wahrheit gezeichnet, die gestern noch als unerschütterlich galt, heute jedoch als „blinder Irrtum“ entlarvt wird. Dies verweist auf die ständig sich verändernde Natur des Wissens, insbesondere in den Naturwissenschaften, in denen Theorien und Entdeckungen häufig korrigiert oder verworfen werden. Paoli kritisiert hier die menschliche Hybris, sich selbst als die absolute Quelle der Wahrheit zu sehen.
In der zweiten Strophe wird die Unsicherheit des wissenschaftlichen Strebens hervorgehoben. Der „Forscher“ arbeitet mühsam, um das „Rätsel des Lebens“ zu lösen, doch seine Bemühungen bleiben oftmals ohne endgültige Antwort. Die „kühne“ Suche nach Wissen, die den menschlichen Drang widerspiegelt, immer mehr zu verstehen und die Grenzen des Wissens zu erweitern, führt oft nur zu neuen Zweifeln und Unklarheiten. Paoli zeigt, dass die Wissenschaft zwar immer wieder voranschreitet, aber auch oft von Zweifeln und Unsicherheiten begleitet wird.
Der abschließende Wendepunkt des Gedichts stellt die „Poesie“ als die einzig wahre Wissenschaft dar. Paoli kontrastiert hier die Unbeständigkeit des wissenschaftlichen Wissens mit der scheinbaren Unveränderlichkeit und Beständigkeit der Poesie. In ihrer Vorstellung steht die Poesie nicht nur für Kunst, sondern auch für eine tiefere, spirituelle Wahrheit, die sich nicht in den flimmernden und schwankenden Theorien der Wissenschaft verliert. Die Poesie ist „in voller Kraft“ und bleibt immer gültig, da sie aus einer inneren, unveränderlichen Quelle spricht.
Mit dieser Betrachtung stellt Paoli die Poesie über die Wissenschaft, indem sie betont, dass wahre Erkenntnis nicht immer in messbaren und veränderlichen Fakten zu finden ist, sondern in der Kunst, die das Wesen der menschlichen Existenz in ihrer Tiefe begreifen kann. Paoli schlägt vor, dass die Poesie in ihrer Fähigkeit, universelle Wahrheiten zu vermitteln, eine stabilere und tiefere Wissenschaft ist als jene, die auf rein rationaler Analyse beruht.
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Lizenz und Verwendung
Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.