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Das Lied vom Hemdchen

Von

Die Sonne stand wohl auf
Des Morgens um halber vier.
Sie zog ihr Hemdlein aus
Und hängt es an die Tür.

Herfür trat sie an Strom
Und bad’t sich ganz darein,
Am ganzen Leibe schön
Wie eine Perle fein.

Alsdann ging sie von danne
Wohl über Berg und Tal,
Bis daß sie endlich kame
An einen hellgrünen Wald.

Im Wald da floß ein Bächelein,
Das hat gesehen
Ein weiß und rot schön Jungfräulein
Ganz ohne Röcklein stehen.

Da kam ein junger Knab,
Der sprach: „Ei wohl fürwahr,
Du tust dein Hemdlein ab
Beim hellen lichten Tag.“

„Mein Hemdlein kann ich lassen,
Ich war ja ganz allein.
Wenn du willst mit mir spaßen,
Nehm ich mein Hemdelein.“

„Dein Leben will ich dir nehmen“,
So sprach der junge Knab,
„Du sollst mir nimmer buhlen
Wohl mit dem jungen Tag.

Ich halt dich mit den Händen,
Drück tot dein Herzelein,
Daß du magst nimmer wenden
Die Augen zum klaren Schein.“

Als dies die Sonne tat schauen,
Da eilt sie schnell davon
Wohl über Berg und Täler,
Bis sie nach Hause kam.

Sie hängt ihr Hemdelein ab,
Sie hängt ihr Hemdelein um,
Daß wenn mein junger Buhler kommt,
Mich nimmer bringet um.

Nun liegt die Sach ganz klar am Tag,
Die Welt ist Nebels voll,
Kein Kraut, kein Wein geraten mag,
Die Jungfern wissen’s wohl.

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Gedicht: Das Lied vom Hemdchen von Bettina von Arnim

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Das Lied vom Hemdchen“ von Bettina von Arnim verbindet volkstümliche Sprache mit einer tiefgründigen, teils düsteren Symbolik und entfaltet eine allegorische Erzählung über weibliche Unschuld, Gewalt und die Konsequenzen patriarchaler Bedrohung. Die zentrale Figur – die Sonne – wird anthropomorphisiert und als weiblich dargestellt, was ihr zugleich eine mythische wie menschliche Dimension verleiht.

Zu Beginn erscheint die Sonne in heiterer Natürlichkeit: Sie steht früh auf, entkleidet sich, badet im Strom – ein Sinnbild für Reinheit, Lebendigkeit und vielleicht auch für eine selbstbestimmte Weiblichkeit. Ihre Bewegungen durch die Landschaft, über „Berg und Tal“ bis zum „hellgrünen Wald“, erzeugen eine fast märchenhafte Atmosphäre. Diese Idylle wird jedoch jäh gebrochen durch das Eindringen des jungen Knaben, der das unbekleidete Jungfräulein – vermutlich eine Projektion oder Spiegelung der Sonne – bedroht.

Die Begegnung zwischen dem Mädchen und dem Jungen wird in harter Sprache geschildert: Aus Neugier oder Eifersucht verwandelt sich die Beobachtung in Gewalt. Die Aussage „Dein Leben will ich dir nehmen“ bringt eine tiefgreifende patriarchale Aggression zum Ausdruck, die sich gegen weibliche Selbstbestimmung und Unschuld richtet. Der Mord aus Besitzdenken und Ehrvorstellungen wird als symbolischer Akt gegen weibliche Freiheit gedeutet.

Die Sonne, die diese Tat beobachtet, flieht entsetzt und kehrt nach Hause zurück. Ihr „Hemdchen“ – das zuvor ein Sinnbild für Natürlichkeit und Unbekümmertheit war – wird nun aus Angst wieder angelegt. Die Sonne wird vorsichtig, versteckt sich, zeigt sich nicht mehr in ihrer ursprünglichen Offenheit. In dieser Umkehrung liegt die tragische Erkenntnis: Die Bedrohung durch männliche Gewalt verändert das Verhalten der Frau, raubt ihr ihre Freiheit, zwingt sie zur Verhüllung und Anpassung.

Die abschließenden Verse offenbaren eine resignative Bilanz: „Die Welt ist Nebels voll“, das Licht, das Klarheit und Leben schenkt, wird durch Angst und Unterdrückung verdunkelt. Die Aussage „Die Jungfern wissen’s wohl“ spricht eine kollektive weibliche Erfahrung aus – ein Wissen um die Bedrohung, das zur Vorsicht und zum Rückzug zwingt. So ist das „Lied vom Hemdchen“ trotz seines volkstümlichen Tons ein tief ernster Text, der poetisch die Mechanismen von Angst, Scham und Gewalt gegen Frauen reflektiert.

Weitere Informationen

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Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.