Baumblüte in Werder
Tante Klara ist schon um ein Uhr mittags besinnungslos betrunken.
Ihr Satinkleid ist geplatzt. Sie sitzt im märkischen Sand und schluchzt.
Der Johannisbeerwein hat′s in sich. Alles jubelt und juchzt
Und schwankt wie auf der Havel die weißen Dschunken.
Waldteufel karren, und Mädchenaugen glühn.
Mutta, Mutta, kiek ma die Boomblüte.
Ach du liebe Güte –
Die Blüten sind alle erfroren. Ein einsamer Kirschbaum versucht zu blühn.
Eisige Winde wehn. In den Kuten balgt und sielt
Sich ein Kinderhaufen. Der Lenz ist da: ertönt es von Seele zu Seele.
Ein schon melierter Herr berappt für seine Tele,
Die ein Kinderbein für ein Britzer Knoblinchen hielt.
Vater spielt auf der Bismarckhöhe mit sich selber Skat und haut
Alle Trümpfe auf den Tisch, unbeirrt um das Wogen und Treiben der Menge.
Braut und Bräutigam verlieren sich im Gedränge,
Ach, wie mancher erwacht am nächsten Morgen mit einer ihm
bis dato unbekannten Braut.
Mutter Natur, wie groß ist deiner Erfindungen Pracht!
Vor lauter Staub sieht man die Erde nicht.
Tief geladen, mit Klumpen von Menschen beladen, sticht
Ein Haveldampfer in See. Schon dämmert es. Über den Föhren erscheint
die sternklare, himmlische, die schweigsame Nacht.
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Baumblüte in Werder“ von Klabund ist eine skurrile und melancholische Momentaufnahme eines Volksfestes, das durch seine Widersprüchlichkeiten und den Kontrast zwischen der ausgelassenen Stimmung und der drohenden Kälte geprägt ist. Der Titel selbst, der das blühende Werder verspricht, wird durch die Beobachtung der Realität ironisch gebrochen: Die Blüten sind erfroren, ein einsamer Kirschbaum versucht zu blühen. Die vermeintliche Festlichkeit ist somit von Anfang an durch das Scheitern der Natur und die Unfähigkeit der Menschen, die wahre Schönheit zu sehen, überschattet.
Die erste Strophe etabliert die Atmosphäre des alkoholseligen Übermuts und des Zerfalls. Tante Klara, Sinnbild der vermeintlichen Festfreude, ist betrunken und ihr Kleid reißt – ein Zeichen des Verlusts der Kontrolle und der enttäuschten Erwartungen. Die Metapher der „weißen Dschunken“, die auf der Havel schwanken, verstärkt das Bild der Orientierungslosigkeit und des Taumelns. Die Freude ist oberflächlich und wird durch die Melancholie der Tatsachen überschattet. Die im Hintergrund stehende Natur (Baumblüte) stirbt und wird durch das Geschehen nicht berücksichtigt.
Die zweite Strophe thematisiert die trügerische Verheißung des Frühlings. Kinder spielen, aber die Kälte ist immer noch präsent. Die „einsame Kirsche“, die sich trotz allem zur Blüte erhebt, steht als Symbol für die Hoffnung, aber auch für die Isolierung. Der melierte Herr, der ein Kinderbein für ein Knoblinchen hält, verdeutlicht die Verzerrung der Wahrnehmung und die Komik, die sich aus der alkoholisierten Umgebung ergibt. Der Lenz, als Verheißung, ist nur Illusion.
Die dritte Strophe zeigt das Fest als einen Ort der sexuellen Eskapaden und der Vereinsamung. Vater spielt Skat, unbeachtet vom Treiben um ihn herum, und Braut und Bräutigam verlieren sich in der Menge. Die Zeile „Ach, wie mancher erwacht am nächsten Morgen mit einer ihm bis dato unbekannten Braut“ deutet auf die Auflösung von Beziehungen und die Leere nach dem Rausch hin. Die letzte Strophe schließlich, in der die „himmlische, die schweigsame Nacht“ über das Geschehen hereinbricht, schließt das Gedicht mit einer gewissen resignativen Ruhe ab, die die Vergänglichkeit des Festes und des menschlichen Treibens betont. Die Pracht der Natur wird nicht gesehen, und die Reise auf dem Haveldampfer geht in die Dunkelheit.
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Lizenz und Verwendung
Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.