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Urwanderung

Von

Raunen und Schrei
Fuß vor Fuß!
Winken Hasten Zagen
Hinab zum Fluß!
Schlürfen und Schnaufen
Weiter … weiter!

Ungeheuer!
Schrecken und Wut!
Mann und Weib
Steine in krampfenden Fäusten
Hinweg! … Hinweg!

Rauchen und Wehn!
Hunger!
Rinde und Blatt
Weiter!

Entwurzelter Stamm
In nerviger Faust!
Schwung und Schlag!
Blutiger Fraß!
Fort!

Blendende Strahlen
Aus blutrotem Rund!
Machtvoller!
Hin!

Blindes Dunkel
Grausen um um
Schlaf und Tod
Schrecklicher!
Hilf!

Ruhe und Rast
Weiter und weiter!
Fluß und Tal
Weiter und weiter!
Wasser und Sand
Weiter und weiter!

Weiter! Weiter!

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Gedicht: Urwanderung von August Stramm

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Urwanderung“ von August Stramm schildert in intensiven, rhythmisch gesetzten Wortbildern eine archaische Flucht- oder Wanderbewegung, die tief ins Menschheitsgedächtnis zurückreicht. Es geht um existentielle Grenzerfahrungen: Angst, Gewalt, Überlebenstrieb und das ständige Weitergehen trotz aller Bedrohungen. Der Titel deutet bereits an, dass hier keine konkrete historische Bewegung, sondern ein mythischer, beinahe evolutionärer Prozess dargestellt wird.

Die Sprache ist fragmentarisch, eruptiv und körperlich – Stramm nutzt eine Abfolge kurzer, aufgeladener Substantive und Verben, die oft ohne syntaktischen Zusammenhang stehen. „Raunen und Schrei“, „Winken Hasten Zagen“, „Schlürfen und Schnaufen“ – das sind Empfindungsräume, die vor allem über Klang, Rhythmus und Assoziation wirken. Immer wieder drängt das Gedicht mit dem Ruf „Weiter!“ voran, als gäbe es kein Innehalten im Strom der Zeit und Notwendigkeit.

Der Mensch erscheint in einer extremen Situation: „Hunger!“, „Blutiger Fraß!“, „Schrecklicher! Hilf!“ – das lyrische Ich verschmilzt mit einer anonymen Gruppe, Mann und Weib, von Triebkräften und Bedrohungen gleichermaßen getrieben. Natur und Existenz stehen in brutaler Gegnerschaft: „Ungeheuer“, „Blindes Dunkel“, „Schlaf und Tod“. Dabei verbindet Stramm das Animalische („Schnaufen“, „Schlürfen“) mit Bildern körperlicher Anstrengung und Gewalt: „Stamm in nerviger Faust“, „Schwung und Schlag“.

Auffällig ist der Wechsel zwischen konkreten Naturbildern – „Fluß“, „Tal“, „Rinde und Blatt“ – und abstrakten Empfindungen wie „Schrecken“, „Wut“, „Grausen“. Diese Gleichzeitigkeit von sinnlicher Unmittelbarkeit und existenzieller Tiefe macht das Gedicht zu einem Sprachritual der Ursituation des Menschen: dem Gehen, dem Fortkommen als einziger Ausweg.

„Urwanderung“ ist somit weniger Erzählung als rituelles Beschwören eines ewigen Zustands der Flucht und Bewegung. Es zeigt das menschliche Dasein im Spannungsfeld zwischen Naturgewalt, innerem Trieb und kosmischem Schrecken – und macht daraus ein intensives, fast atemloses Sprachbild des Überlebens.

Weitere Informationen

Hier finden sich noch weitere Informationen zu diesem Gedicht und der Seite.

Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.