Freudenhaus
Lichte Dirnen aus den Fenstern
Die Seuche
Spreitet an der Tür
Und bietet Weiberstöhnen aus!
Frauenseelen schämen grelle Lache!
Mutterschöße gähnen Kindestod!
Ungeborenes
Geistet
Dünstelnd
Durch die Räume!
Scheu
Im Winkel
Schamzerpört
Verkriecht sich
Das Geschlecht!
Gedicht als Bild, zum Downloaden und Teilen

Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Freudenhaus“ von August Stramm ist eine düstere, beklemmende Anklage gegen die Entmenschlichung und Zerstörung von Weiblichkeit, Sexualität und Unschuld in einem Raum, der eigentlich mit Lust assoziiert wird. Stramm nutzt das Bordell als zentrales Motiv, um eine entfremdete und entseelte Welt zu zeigen, in der Körperlichkeit zur Ware, Mutterschaft zur Tragödie und Sexualität zur Quelle von Krankheit und Verzweiflung wird.
Bereits die ersten Verse setzen einen bitteren Kontrast: „Lichte Dirnen aus den Fenstern“ klingt zunächst beinahe freundlich oder sogar poetisch, wird aber sofort konterkariert durch „Die Seuche“, die „an der Tür“ lauert. Das Bild des Hauses wird so zur Metapher für gesellschaftliche Dekadenz und moralischen Verfall. Statt Lebenslust herrschen Krankheit und Tod. Die explizite Nennung von „Weiberstöhnen“, „Mutterschöße“ und „Kindestod“ deutet auf einen entmenschlichten, mechanisierten Umgang mit dem weiblichen Körper hin.
Zentrale Motive sind Scham, Schuld und eine tiefgreifende Entfremdung. „Frauenseelen schämen grelle Lache“ beschreibt eine seelische Zerrissenheit: Das Lachen, das eigentlich mit Freude verbunden ist, wird hier grell – also aufdringlich und hohl – und entlarvt die Maskerade der Lust. Die „Mutterschöße“ gähnen nicht Leben, sondern „Kindestod“: ein erschütterndes Bild, das Mutterschaft pervertiert zeigt, als tragisches Echo unerfüllter oder zerstörter Hoffnung.
Mit dem Auftreten des „Ungeborenen“, das „geistet“ und „dünstelnd durch die Räume“ schwebt, wird das Freudenhaus zur Geisterstätte – eine Welt zwischen Leben und Tod, in der das Nicht-Geborene die latente Schuld oder das Trauma symbolisiert. Das Gedicht kulminiert schließlich in der Auflösung der geschlechtlichen Identität: „Schamzerpört“ und „verkriecht sich das Geschlecht“ – eine völlige Zersetzung von Sexualität, Schamgefühl und Identität.
„Freudenhaus“ ist damit ein komprimiertes, bildgewaltiges Gedicht über seelische Verwüstung, entfremdete Sexualität und gesellschaftliche Heuchelei. Stramm stellt den menschlichen Körper und insbesondere die weibliche Sexualität ins Zentrum einer schmerzhaften Zivilisationskritik, in der Lust und Leben nur als verzerrte Schatten ihrer selbst erscheinen.
Hier finden sich noch weitere Informationen zu diesem Gedicht und der Seite.
Lizenz und Verwendung
Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.