Auf die Motten
»Wo ist ein Volk, so frei von allen Plagen,
Die andrer Völker traurig Erbteil sind,
Ein glücklicher nutzniessrisch Heldenkind,
Als unser Schweizervölklein zu erfragen?
Und doch, wie fiebernd seine Pulse schlagen!
Für seiner Freiheit Überfülle blind,
Hascht übermütig es nach leerem Wind,
Wann enden seine undankbaren Klagen?«
So sprechen jene flink gelenken Motten,
Die so gemütlich in dem Rauchwerk nisten,
Dem warmen, köstlichen, und es zernagen.
»Nur eben euch gilt es noch auszurotten
(So sprechen wir, die radikalen Christen),
Mit lindem Klopfen aus dem Pelz zu jagen!«
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Auf die Motten“ von Gottfried Keller ist eine pointierte Satire auf das vermeintliche Missvergnügen und die Selbstgefälligkeit des Schweizer Volkes, verpackt in der Form eines Dialogs zwischen dem Autor und den Motten. Der Titel selbst und die Wahl der Motten als Protagonisten legen bereits eine ironische Ebene nahe, da Motten in der Regel als zerstörerisch und unbemerkt agierend wahrgenommen werden.
Im ersten Teil des Gedichts werden die Motten zitiert, die das Schweizer Volk befragen. Sie stellen die rhetorische Frage nach einem Volk, das freier von Plagen ist und dennoch unzufrieden wirkt. Die Motten betonen die scheinbare Unbekümmertheit der Schweizer, die sich durch ihre wirtschaftliche und politische Freiheit auszeichnet. Sie malen das Bild eines „glücklichen nutzniessrisch Heldenkind[s]“, das die Vorteile seines privilegierten Daseins genießt, aber gleichzeitig unaufhörlich klagt und nach „leerem Wind“ hascht. Dies deutet auf eine Kritik am mangelnden Dankbarkeitsgefühl und an der rastlosen Suche nach mehr, die Keller dem Schweizer Volk unterstellt.
Der zweite Teil des Gedichts wechselt die Perspektive. Nun sprechen die „radikalen Christen“, die sich als die „Wir“ des Gedichts zu erkennen geben. Sie sehen die Motten, die im Rauchwerk nisten und es zernagen, als Metapher für eine Bedrohung, die es auszurotten gilt. Der „Pelz“, aus dem die Motten „mit lindem Klopfen“ gejagt werden sollen, steht hier vermutlich für die materiellen Güter oder die etablierte Ordnung, die durch die „Motten“ – also durch das kritische Volk – gefährdet wird.
Die Ironie des Gedichts liegt in der doppelten Bedeutungsebene. Einerseits werden die Motten als zerstörerische Kreaturen dargestellt, die an den Fundamenten des Wohlstands nagen. Andererseits sind die „radikalen Christen“, die versuchen, die Motten zu vertreiben, selbst Teil des Problems, da sie die Kritiker des Volkes sind. Keller kritisiert somit sowohl die Unzufriedenheit und das Streben nach mehr als auch die radikalen Kräfte, die versuchen, diese Unzufriedenheit zu unterdrücken. Die „lindes Klopfen“ deutet auf eine sanfte, aber bestimmte Vorgehensweise hin, wodurch Kellers eigene Position, die zwischen den Extremen angesiedelt ist, subtil zum Ausdruck kommt.
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Lizenz und Verwendung
Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.