Auf dem Flusse
Der du so lustig rauschtest,
Du heller, wilder Fluß,
Wie still bist du geworden,
Gibst keinen Scheidegruß.
Mit harter, starrer Rinde
Hast du dich überdeckt,
Liegst kalt und unbeweglich
Im Sande ausgestreckt.
In deine Decke grab′ ich
Mit einem spitzen Stein
Den Namen meiner Liebsten
Und Stund′ und Tag hinein:
Den Tag des ersten Grußes,
Den Tag, an dem ich ging;
Um Nam′ und Zahlen windet
Sich ein zerbroch′ner Ring.
Mein Herz, in diesem Bache
Erkennst du nun dein Bild?
Ob′s unter seiner Rinde
Wohl auch so reißend schwillt?
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Auf dem Flusse“ von Wilhelm Müller ist eine bewegende Reflexion über Verlust, Stille und die Vergänglichkeit von Liebe und Erinnerung, eingebettet in die Metapher eines gefrorenen Flusses. Der Sprecher betrachtet den einst „lustig rauschenden“ Fluss, der nun erstarrt und bedeckt ist. Der Kontrast zwischen der Lebendigkeit des Flusses in der Vergangenheit und seiner gegenwärtigen, kalten Stille spiegelt die Veränderung in der emotionalen Welt des Sprechers wider, der in seiner Trauer verharrt.
Die ersten beiden Strophen beschreiben die physische Veränderung des Flusses, von einem dynamischen, lebendigen Gewässer zu einer starren, eisbedeckten Oberfläche. Diese Verwandlung dient als Spiegelbild der eigenen Gefühlswelt des Sprechers, der durch den Verlust oder das Ende einer Liebesbeziehung emotional erstarrt ist. Die „harte, starre Rinde“ des Flusses versinnbildlicht die emotionale Kälte und die Unfähigkeit, sich zu bewegen und sich von der Vergangenheit zu lösen. Der Fluss, der einst ein Zeichen von Leben und Bewegung war, ist nun in seinem Zustand der Ruhe gefangen, ähnlich wie das Herz des Sprechers in seiner Trauer verweilt.
In den folgenden Strophen vertieft sich der Sprecher in seine Erinnerungen und ritzt den Namen seiner Geliebten, sowie Daten und Ereignisse, in das Eis. Dieses Eingraben ist eine ergreifende Geste der Verzweiflung und des Festhaltens an der Vergangenheit. Der „zerbroch’ne Ring“, der sich um Namen und Zahlen windet, symbolisiert das Ende der Beziehung und die Fragmentierung der Erinnerungen. Die Handlung des Eingrabens ist ein Versuch, die verlorene Liebe festzuhalten und ihr einen physischen Ausdruck zu verleihen, obwohl die Vergänglichkeit des Eises die aussichtslose Natur dieses Bemühens unterstreicht.
Die letzte Strophe stellt eine eindringliche Frage: „Mein Herz, in diesem Bache / Erkennst du nun dein Bild?“. Hier findet eine direkte Verbindung zwischen dem gefrorenen Fluss und dem Herzen des Sprechers statt. Die Frage impliziert, ob das Herz, wie der Fluss unter seiner eisigen Oberfläche, auch im Stillen „reißend schwillt“, d.h. ob es noch von den Emotionen der Liebe und des Verlusts bewegt wird. Diese Frage verdeutlicht die tiefe innere Zerrissenheit des Sprechers und seine Auseinandersetzung mit der eigenen Trauer. Das Gedicht endet somit mit einem Gefühl der Unbestimmtheit und der Sehnsucht nach einer Wiederherstellung der emotionalen Lebendigkeit.
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Lizenz und Verwendung
Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.