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Paysage intime

Von

Ma pauvre Muse, hélas qu’as-tu donc ce matin?
Charles Baudelaire

Sternklar über seinem Filz
Wölbte sich der Winterhimmel
Und, die Dächer dick verschneit,
Lag das schlummernde Berlin.

Leider war die Gaslaterne,
Die ihr gelblich ins Gesicht schien,
Nicht mehr hell genug dazu.

Erst als kichernd sie im Hausflur
Sich mit seinen Schwefelhölzchen
Ihren Wachsstock angezündet,
Sah er, dass sein Schmetterling
Schon zu unverschämt lädirt war.

Sich nach rückwärts concentriren?
Nein, die Hausthür war schon zu!
Pech! Pfui Deibel! Und verdriesslich,
Kritisch jede Stufe prüfend,
Tappte er ihr langsam nach.

Fern vom Hinterhaus her johlte
Ein verspäteter Geburtstag,
Und das Flakerlicht des Kerzchens,
Das sich vor ihm aus dem Dunkeln,
Wie ein Irrlicht abhob, streifte
Ab und zu ein Porzellanschild

Baltrutsch, las er auf dem einen,
Baltrutsch, Knopf-Arbeiter. – Endlich!

Gut, dass wenigstens ihr Zimmer,
Dessen Thür erst frisch geölt schien,
Eingermassen wohnlich war.

Feuerroth im Ofen glühte
Grad das letzte Schäuflein Kohlen,
Und ein sauberes Rouleau
Schob sich schneeweiss vor das Fenster.

An die grüngestreifte Wand
War ein Christusbild genagelt.

In das aufgedeckte Bett,
Das davorstand, dämmerte
Mattblau eine kleine Ampel,
Und das obligate Sopha
Stand ihm grade gegenüber.

Auch die Marmortoilette
Fehlte selbstverständlich nicht.

Zwei bis drei zerbrochne Stühle
Blätterten daneben cynisch
Ihre Memoiren auf.

Freilich, wie diverse Lieder,
Memoiren ohne Worte.

„Nun? Was schenkst du mir denn Schatz?“
Und die vollen nackten Arme
Frech um seinen Hals geringelt,
Presste ihn die weisse Bestie
Fest an ihre blossen Brüste.

Doch, da kürzlich erst der Erste
Ihm das Portemonnaie gefüllt,
Wurden sie bald handelseins.

Während er sich noch bemühte,
Sich die Stiefel auszuziehn,
Lachte auch sein Kaufobjekt,
Nackt wie Eva, schon vom Bett her.

Fünf Minuten später noch,
Und das indiscrete Lämpchen
Flackert, leuchtet und verlischt.

Dunkelheit! Vom Ofenrost her,
Leis hinzitternd über die Dielen,
Nur ein magrer, rother Lichtstreif,
Und ins faltige Rouleau
Malt sich fernher von der Strasse
Fahl das Licht der Gaslaternen.

Dunkelheit! Nur ab und zu
Bricht ein heftig schweres Athmen
Hastig durch die tiefe Stille,
Und dazwischen rauscht’s und knittert’s
Durch die Luft wie frisches Bettzeug.

Dunkelheit! Im Hause gingen
Schon zum fünften Mal die Uhren,
Und das Zimmer fing sich an
Leise grau in grau zu malen.

„Bleib doch noch!“ „Nein, lass, ich muss gehn!“
Und aus ihrem Arm sich windend,
Tappte er nach seinen Kleidern
Und begann sich anzuziehn.

Ihren bleichen, runden Kopf
Matt auf ihren Arm gestützt,
Sah sie ihm mechanisch zu.

„Kommst du wieder?“ Gottseidank!
Jetzt nur noch den Rock und –
„Kommst du wieder?“ – jetzt: „Adieu!“

Unten, auf dem Hausflur, kam ihm
Eine Zeitungsfrau entgegen.

Donnerwetter! Schon so spät?
Und den Kragen seines Mantels
Hoch bis unters Kinn geknöpft,
Trat er fröstelnd vor die Thür.

Schmutzig lag vor ihm die Strasse,
Schmutzig wie ein altes Schnupftuch,
Und vom grauverhangnen Himmel
Rieselte ein feiner Nebel.

„Brrr!“ Und vor sich selbst aus Ekel
Spie er mitten in die Gosse.

Gedicht als Bild, zum Downloaden und Teilen

Gedicht: Paysage intime von Arno Holz

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Paysage intime“ von Arno Holz zeigt in impressionistisch gefärbter, aber zugleich schonungslos realistischer Weise ein nächtliches Großstadtbild, das von Tristesse, Entfremdung und einer tiefen existenziellen Leere geprägt ist. In der Tradition des Naturalismus – und angelehnt an die Stimmung der französischen Décadence, wie schon das Motto von Baudelaire andeutet – beschreibt Holz mit beinahe dokumentarischer Nüchternheit eine flüchtige sexuelle Begegnung zwischen einem anonymen Mann und einer Prostituierten.

Die Großstadt Berlin erscheint dabei als kalte, gleichgültige Kulisse: verschneit, verschlafen, von schwachem Gaslicht durchzogen. Die Szenerie ist geprägt von Dämmerung, Dunkelheit und einem Licht, das immer wieder aufflackert und verlischt – ein zentrales Motiv des Gedichts, das auch den inneren Zustand der Figuren spiegelt. Der Mann bewegt sich durch diesen Raum tastend, fast willenlos, von außen wie von innen getrieben, während er mit Verdrossenheit und abgestumpfter Wahrnehmung der Situation begegnet.

Die Darstellung des Zimmers der Frau ist detailreich, aber voller leiser Ironie: Das „Christusbild“, das „obligate Sofa“, die „zerbrochnen Stühle“ – all das scheint wie ein abgenutztes Bühnenbild eines immer gleichen Aktes. Holz überzeichnet die Szene bewusst mit einem fast sarkastischen Unterton, wenn etwa vom „Kaufobjekt“ gesprochen wird oder das Lächeln der Nackten „wie Eva“ vom Bett herab beschrieben wird. Die Sprache pendelt zwischen poetischer Andeutung und drastischer Direktheit – ein Stilmittel, das die emotionale Distanziertheit des lyrischen Ichs betont.

Nach dem kurzen Moment körperlicher Nähe folgt erneut die Dunkelheit – nicht nur als äußeres Lichtphänomen, sondern auch als innerer Zustand. Die Geräusche, das „heftig schwere Atmen“ und das „Rauschen wie frisches Bettzeug“, wirken fast gespenstisch, wie Nachklänge einer Intimität, die nie wirklich da war. Am Ende ist es die Frau, die in ihrer Frage „Kommst du wieder?“ eine leise Hoffnung andeutet, die jedoch brüsk ignoriert wird.

Mit „Paysage intime“ gelingt Holz eine stille, aber eindringliche Momentaufnahme moderner Großstadterfahrung: Die Nähe bleibt äußerlich, die Begegnung anonym, das Erwachen grau. Der letzte Eindruck, der „Ekel“, mit dem der Mann in die Gosse spuckt, bringt die existenzielle Leere der Szene auf den Punkt – ein Bild für die Entmenschlichung und Vereinzelung des modernen Menschen im urbanen Alltag.

Weitere Informationen

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Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.