Anrede
Ich bin nur Flamme, Durst und Schrei und Brand.
Durch meiner Seele enge Mulden schießt die Zeit
Wie dunkles Wasser, heftig, rasch und unerkannt.
Auf meinem Leibe brennt das Mal: Vergänglichkeit.
Du aber bist der Spiegel, über dessen Rund
Die großen Bäche alles Lebens gehn,
Und hinter dessen quellend gold′nem Grund
Die toten Dinge schimmernd aufersteh′n.
Mein Bestes glüht und lischt – ein irrer Stern,
Der in den Abgrund blauer Sommernächte fällt –
Doch deiner Tage Bild ist hoch und fern,
Ewiges Zeichen, schützend um dein Schicksal hergestellt.
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Anrede“ von Ernst Stadler ist eine tiefgründige Auseinandersetzung mit der Vergänglichkeit und der Suche nach Beständigkeit. Der Sprecher, der sich selbst als „Flamme, Durst und Schrei und Brand“ beschreibt, repräsentiert das flüchtige, unaufhaltsame Dahinrauschen der Zeit und die damit verbundene Endlichkeit des Lebens. Die Metaphern „dunkles Wasser“ und „Mal: Vergänglichkeit“ verstärken den Eindruck von Zerbrechlichkeit und dem unausweichlichen Verfall, der den Menschen begleitet.
Im Gegensatz dazu wird in der zweiten Strophe das „Du“ als Spiegel dargestellt, der das Wesen der Ewigkeit verkörpert. Dieses „Du“ ist eine Konstante, ein Ort der Wiedergeburt und des unendlichen Lebens. Das fließende Bild der „großen Bäche alles Lebens“ und die Auferstehung „toter Dinge“ hinter dem „quellend gold′nen Grund“ deutet auf eine tiefere, transzendente Ebene hin, die dem Vergänglichen entgegensteht. Die Gegenüberstellung von „Flamme“ und „Spiegel“ bildet das zentrale Thema des Gedichts: die Spannung zwischen dem kurzlebigen, leidenschaftlichen Ich und dem ewigen, unsterblichen Prinzip.
Die letzte Strophe vertieft diese Dualität. Das „Mein Bestes“ wird als „irrer Stern“ beschrieben, der im Abgrund verglüht, ein Bild des Scheiterns und der Vergänglichkeit der eigenen Ideale. Der Kontrast zum „Du“ wird dadurch noch verstärkt: Dessen „Tage Bild“ ist „hoch und fern“, ein „ewiges Zeichen“, das das Schicksal beschützt. Dieses abschließende Bild suggeriert eine Sehnsucht nach Halt und Beständigkeit, nach etwas, das über das kurzlebige Dasein hinausreicht. Das Gedicht reflektiert somit nicht nur die eigene Sterblichkeit, sondern auch die Suche nach einem Sinn, der über die Grenzen der menschlichen Existenz hinausgeht.
Stadlers Sprache ist bildhaft und ausdrucksstark, mit einer Vielzahl von Metaphern und Vergleichen, die die Gegensätze des Lebens hervorheben. Die Verwendung von Worten wie „Durst“, „Schrei“ und „Brand“ unterstreicht die Leidenschaft und das ungestüme Streben des Ich, während die ruhigen, fließenden Bilder des „Spiegels“ und des „quellend gold′nen Grundes“ die Ruhe und Ewigkeit symbolisieren. Durch diese Kontraste erzeugt Stadler eine tiefgründige Reflexion über die Natur der Existenz und die Suche nach dem Ewigen im Angesicht der Vergänglichkeit.
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Lizenz und Verwendung
Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.