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Junge Liebe

Von

Über dem Brünnlein nicket der Zweig,
Waldvögel zwitschern und flöten,
Wild Anemon‘ und Schlehdorn bleich
Im Abendstrahle sich röten,
Und ein Mädchen mit blondem Haar
Beugt über der glitzernden Welle,
Schlankes Mädchen, kaum fünfzehn Jahr,
Mit dem Auge der scheuen Gazelle.

Ringelblumen blättert sie ab:
„Liebt er, liebt er mich nimmer?“
Und wenn „liebt“ das Orakel gab,
Um ihr Antlitz gleitet ein Schimmer:
„Liebt er nicht“ – o Grimm und Graus!
Daß der Himmel den Blüten gnade!
Gras und Blumen, den ganzen Strauß,
Wirft sie zürnend in die Kaskade.

Gleitet dann in die Kräuter lind,
Ihr Auge wird ernst und sinnend;
Frommer Eltern heftiges Kind,
Nur Minne nehmend und minnend,
Kannte sie nie ein anderes Band
Als des Blutes, die schüchterne Hinde;
Und nun einer, der nicht verwandt –
Ist das nicht eine schwere Sünde?

Mutlos seufzet sie niederwärts,
In argem Schämen und Grämen,
Will zuletzt ihr verstocktes Herz
Recht ernstlich in Frage nehmen.
Abenteuer sinnet sie aus:
Wenn das Haus nun stände in Flammen,
Und um Hülfe riefen heraus
Der Karl und die Mutter zusammen?

Plötzlich ein Perlenregen dicht
Stürzt ihr glänzend aus beiden Augen,
In die Kräuter gedrückt ihr Gesicht,
Wie das Blut der Erde zu saugen,
Ruft sie schluchzend: „Ja, ja, ja!“
Ihre kleinen Hände sich ringen,
„Retten, retten würd‘ ich Mama,
Und zum Karl in die Flamme springen!“

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Gedicht: Junge Liebe von Annette von Droste-Hülshoff

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Junge Liebe“ von Annette von Droste-Hülshoff beschreibt die zarte und leidenschaftliche Gefühlswelt eines jungen Mädchens, das sich in einer Mischung aus Naivität, Unsicherheit und intensiven Emotionen mit der ersten Liebe auseinandersetzt. Zu Beginn wird eine idyllische Naturkulisse beschrieben: Ein „Brünnlein“ und ein „Zweig“ im Wald, die Vögel singen und die Blumen erblühen im Abendlicht. Diese ruhige, fast märchenhafte Atmosphäre steht im Kontrast zu den stürmischen Gefühlen des Mädchens, das „mit blondem Haar“ über dem Wasser steht und sich in den Rätseln der Liebe verliert. Die Metapher des Mädchens mit dem „Auge der scheuen Gazelle“ betont ihre Unschuld, Schüchternheit und die Zerbrechlichkeit ihrer Gefühle.

Im zweiten Abschnitt des Gedichts spielt das Mädchen ein beliebtes „Orakelspiel“, bei dem sie die Blätter der Ringelblumen abzupft, um zu erfahren, ob der junge Mann sie liebt oder nicht. Diese kindliche Handlung steht symbolisch für die Unsicherheit und das Bedürfnis nach Bestätigung, das mit der ersten Liebe einhergeht. Der „Schimmer“ in ihrem Gesicht, wenn das Orakel die Antwort „liebt“ gibt, zeigt die Freude und Hoffnung, die sie in der Liebe sieht. Doch die Antwort „liebt nicht“ führt zu einem dramatischen Ausbruch der Enttäuschung und des Zorns, indem sie die Blumen in die „Kaskade“ wirft – ein Bild der Trauer und des Frustes.

Die folgende Verszeile offenbart die innere Zerrissenheit des Mädchens. Sie ist ein „frommes“ Kind, das in einer strengeren, traditionellen Welt lebt und nur das „Band des Blutes“ kennt. Ihre erste Liebe jedoch, die zu einem Mann, der nicht verwandt ist, erscheint ihr als eine „schwere Sünde“. Diese moralische Konflikthaftigkeit, die die junge Liebe mit den gesellschaftlichen Normen in Einklang bringen muss, ist ein zentrales Thema des Gedichts. Die Unschuld des Mädchens wird durch die Vorstellung von „Abenteuer“ und „Flammen“ konfrontiert, wobei die Fantasie das Bedürfnis nach Aufregung und Entgrenzung in ihr weckt.

Am Ende des Gedichts wird die Zerrissenheit des Mädchens in einer intensiven emotionalen Explosion deutlich. Sie ist hin- und hergerissen zwischen Pflicht und der Leidenschaft der Liebe. In einer dramatischen Wendung weint sie und ruft „Ja, ja, ja!“, als ob sie sich endlich ihrer Gefühle hingibt und gleichzeitig die Verantwortung und das Risiko der Entscheidung in sich trägt. Ihre Fantasie, die sie dazu bringt, sich vorzustellen, wie sie in die Flammen springt, um zu retten, was sie liebt, verdeutlicht die tiefe Hingabe und das Opfer, das sie bereit ist, für ihre Liebe zu bringen. Die bildhafte Darstellung ihrer „kleinen Hände“ und das Ringen in ihrer Verzweiflung fängt die impulsive und leidenschaftliche Natur der ersten Liebe ein.

Insgesamt fängt Droste-Hülshoff in diesem Gedicht die komplexe, oft widersprüchliche Gefühlswelt der jungen Liebe ein: einerseits geprägt von kindlicher Unschuld und Sehnsucht, andererseits von der Konfrontation mit gesellschaftlichen Normen und moralischen Fragen. Es ist ein kraftvolles Bild von jugendlicher Leidenschaft und dem Streben nach Freiheit und Bestätigung in der Liebe.

Weitere Informationen

Hier finden sich noch weitere Informationen zu diesem Gedicht und der Seite.

Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.