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Fastnacht

Von

Herr, gib mir, daß ich sehe!
Ich weiß es, daß der Tag ist aufgegangen;
Im klaren Osten stehn fünf blut’ge Sonnen,
Und daß das Morgenrot mit stillem Prangen
Sich spiegelt in der Herzen hellen Bronnen;
Ich sehe nicht, ich fühle seine Nähe.
Herr, gib mir, daß ich sehe!

Und wie ich einsam stehe:
Sich um mich regt ein mannigfaches Klingen;
Ein jeder will ein lichtes Plätzchen finden,
Und alle von der Lust der Sonnen singen.
Ich nimmer kann die Herrlichkeit ergründen,
Und wird mir nur ein unergründlich Wehe.
Herr, gib mir, daß ich sehe!

Wie ich die Augen drehe,
Verlangend, durch der Lüfte weite Reiche,
Und meine doch ein Schimmer müsse fallen
In ihrer armen Kreise öde Bleiche,
Weil deine Strahlen mächtig doch vor allen:
Doch fester schließt die Rinde sich, die zähe.
Herr, gib mir, daß ich sehe!

Gleich dem getroffnen Rehe
Möcht‘ ich um Hülfe rennen durch die Erde;
Doch kann ich nimmer deine Wege finden.
Ich weiß, daß ich im Moor versinken werde,
Wenn nicht der Wolf zuvor verschlang den Blinden;
Auch droht des Stolzes Klippe mir, die jähe.
Herr, gib mir, daß ich sehe!

So bleib‘ ich auf der Höhe,
Wo du zum Schutz gezogen um die Deinen
Des frommen Glaubens zarte Ätherhalle,
Worin so klar die roten Sonnen scheinen,
Und harre, daß dein Tau vom Himmel falle,
Worin ich meine kranken Augen bähe.
Herr, gib mir, daß ich sehe!

Wie sich die Nacht auch blähe,
Als sei ich ihrer schwarzen Macht verbündet,
Weil mir verschlossen deine Strahlenfluten:
Hat sich doch ihre Nähe mir verkündet,
Empfind‘ ich doch, wie lieblich ihre Gluten!
So weiß ich, daß ich nicht vergeblich flehe.
Herr, gib mir, daß ich sehe!

Und wie mich mancher schmähe,
Als soll‘ ich nie zu deinem Strahl gelangen,
Dieweil ich meine Blindheit selbst verschuldet,
Da ich in meiner Kräfte üpp’gem Prangen
Ein furchtbar blendend Feuerlicht geduldet,
Mir sei schon recht, und wer gesät der mähe:
Herr, gib mir, daß ich sehe!

Herr, wie du willst, geschehe!
Doch nicht von deinem Antlitz will ich gehen;
In diesen Tagen wo die Nacht regieret,
Will ich allein in deinem Tempel stehen
Von ihrem kalten Zepter unberühret,
Ob ich den Funken deiner Huld erspähe.
Herr, gib mir, daß ich sehe!

Daß mich dein Glanz umwehe,
Das fühl‘ ich wohl durch alle meine Glieder,
Die sich in schauderndem Verlangen regen.
O milder Herr, sieh mit Erbarmen nieder!
Kann ein unendlich Flehn dich nicht bewegen?
Ob auch der Hahn zum dritten Male krähe,
Herr, gib mir, daß ich sehe!

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Gedicht: Fastnacht von Annette von Droste-Hülshoff

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Fastnacht“ von Annette von Droste-Hülshoff ist ein tief religiöses und existenzielles Werk, das sich mit dem Thema der Blindheit im geistigen und physischen Sinne auseinandersetzt. Die Sprecherin bittet in jeder Strophe darum, „sehen“ zu können – eine Bitte, die sowohl wörtlich als auch metaphorisch verstanden werden kann. Die Blindheit steht hier nicht nur für das Fehlen des physischen Sehens, sondern auch für eine geistige Dunkelheit, die die Sprecherin von der Wahrnehmung des Göttlichen trennt.

Die wiederholte Bitte „Herr, gib mir, daß ich sehe“ wird zu einem Hilfeschrei, der die verzweifelte Sehnsucht nach Einsicht und Erleuchtung ausdrückt. In der ersten Strophe beschreibt die Sprecherin den Tag, der zwar erkennbar ist, jedoch ohne das ersehnte „Sehen“ nicht vollständig erfasst werden kann. Der Wunsch nach Klarheit wird durch das Bild der Sonne verstärkt, deren Licht und Strahlen für das geistige Erkennen und das Finden der Wahrheit stehen. Doch diese Wahrheit bleibt ihr verschlossen, und die ständige Wiederholung ihrer Bitte zeigt die Dringlichkeit ihrer Not.

In der zweiten Strophe wird die Sprecherin von der Unruhe der Welt umgeben, die sich mit einem „mannigfachen Klingen“ manifestiert. Es scheint, als ob alles und jeder nach etwas strebt, doch sie bleibt der Erleuchtung und dem göttlichen Licht fern. Diese Distanz zur „Herrlichkeit“ führt zu einem Gefühl der Einsamkeit und des Leidens. Das Bild der „unerschlossenen Rinde“ verdeutlicht, wie die Sprecherin trotz des Verlangens nach göttlicher Nähe in ihrer geistigen „Blindheit“ gefangen bleibt.

Die dritte und vierte Strophe vertiefen das Bild der Isolation und der Vergeblichkeit der Suche nach Hilfe. Die Sprecherin sieht sich in einer Welt, die sie nicht vollständig begreifen kann, und fühlt sich wie ein „getroffenes Reh“, das nicht in der Lage ist, den richtigen Weg zu finden. Sie weiß, dass sie ohne göttliche Hilfe in die Irre gehen wird, sei es in ein „Moor“ oder auf die „Stolzklippe“. Doch trotz der scheinbaren Aussichtslosigkeit fleht sie weiter um das göttliche Licht, das ihr die Erleuchtung schenken soll.

Abschließend stellt das Gedicht eine religiöse Reflexion über den menschlichen Zustand der Unvollkommenheit dar. Die Sprecherin akzeptiert, dass sie „blind“ ist, aber ihre Hoffnung bleibt in der göttlichen Gnade verankert. Die ständige Bitte um das „Sehen“ ist eine Metapher für den menschlichen Drang, das Göttliche zu erkennen und die Wahrheit zu begreifen. In der letzten Strophe wird die Sprecherin mit ihrer eigenen Ohnmacht konfrontiert, doch ihr unerschütterlicher Glaube an das göttliche Licht und die Hoffnung auf Erlösung bleiben bestehen.

Weitere Informationen

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Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.