Die rechte Stunde
Im heitren Saal beim Kerzenlicht,
Wenn alle Lippen sprühen Funken,
Und gar vom Sonnenscheine trunken,
Wenn jeder Finger Blumen bricht,
Und vollends an geliebtem Munde,
Wenn die Natur in Flammen schwimmt, –
Das ist sie nicht die rechte Stunde,
Die dir der Genius bestimmt.
Doch wenn so Tag als Lust versank,
Dann wirst du schon ein Plätzchen wissen,
Vielleicht in deines Sofas Kissen,
Vielleicht auf einer Gartenbank:
Dann klingt’s wie halb verstandne Weise,
Wie halb verwischter Farben Guß
Verrinnt’s um dich, und leise, leise
Berührt dich dann dein Genius.
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Die rechte Stunde“ von Annette von Droste-Hülshoff beschäftigt sich mit der Suche nach dem idealen Moment der Erfüllung und Inspiration, der für den Genius des Individuums von Bedeutung ist. In der ersten Strophe beschreibt die Sprecherin eine heitere, überfließend lebendige Szene, in der das Licht der Kerzen und die fröhliche Gesellschaft eine beinahe euphorische Stimmung erzeugen. Doch diese Momente der äußeren Freude und des Überschwangs sind nicht das, was die Sprecherin als die „rechte Stunde“ bezeichnet. Sie stellt klar, dass wahre Erfüllung und kreative Inspiration nicht in der lauten, glanzvollen Welt des Feierns und der oberflächlichen Schönheit zu finden sind, sondern in einem ruhigeren, stilleren Moment.
In der zweiten Strophe wird die „rechte Stunde“ als ein Moment beschrieben, der nach dem Ende des Tages kommt – wenn der „Tag als Lust versank“. Diese Zeit der Dämmerung, wenn der Trubel des Tages nachlässt und die äußeren Eindrücke in den Hintergrund treten, wird als der wahre Zeitpunkt der Inspiration dargestellt. Es ist ein stiller Moment, vielleicht auf einer „Gartenbank“ oder in den weichen „Kissen“ eines Sofas, der Raum für Reflexion und innere Berührung lässt. Die Stimmung wird als sanft und unaufdringlich beschrieben: „halb verstandne Weise“ und „halb verwischter Farben Guß“. Diese Bilder deuten auf eine subtile, fast unbewusste Art der Wahrnehmung hin, die die Sprecherin mit dem Einfluss des „Genius“ verknüpft – einer höheren, spirituellen oder kreativen Eingebung, die in der Stille und im Einklang mit der Natur erlebbar wird.
Das Gedicht reflektiert die Vorstellung, dass wahre Inspiration und tiefere Erfüllung nicht in lauten, äußeren Festlichkeiten zu finden sind, sondern in Momenten der Ruhe und der Introspektion. Der „Genius“, der in dieser stillen Zeit erscheint, berührt die Sprecherin auf leise, aber tiefgreifende Weise. Diese „rechte Stunde“ ist nicht ein festgelegter, äußerer Moment, sondern eine innere Erfahrung der Harmonie und Verbindung mit etwas Höherem, das oft im Trubel des Alltags verborgen bleibt. Droste-Hülshoff betont hier die Wichtigkeit von Stille und Zurückgezogenheit als Quellen der wahren Kreativität und des tieferen Verständnisses.
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Lizenz und Verwendung
Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.