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Wiegenliedchen

Von

dem Sack- und Spaldingischen Enkel zu Magdeburg gewidmet
Den 3ten September 1771

Mischt immer eure Blätter, spielet
Gedankenvoll, und hoffend fühlet
Die Freuden des Gewinnes ganz;
Mein Geist, zu stoisch und zu trocken,
Ließ nie die Charten sich verlocken,
Und hüpfte nie zu einem Tanz!

Zu steif den Fuß im Tact zu lenken,
Zu roh, beym Spiele was zu denken,
Blieb ich in beyden ungelehrt;
Ich kenne nicht der Blätter Nahmen,
Weiß nicht, was Buben sind und Damen,
Weiß nichts vom Blatt, dem Sieg gehört.

Nur Bücher hab ich liebgewonnen,
Darinn gelesen, nachgesonnen,
Selbst eins gemacht, so schlecht es war!
Nichts fragt ich da nach Spiel und Tänzen,
Ich las, wodurch sich Helden cränzen,
Und träumte Schlachten und Gefahr!

Ich ging, auf selbst gebauten Wällen,
Ließ sich mein Volk in Ordnung stellen
Und that, als wie ein General;
Warf Schanzen auf, schoß Ziegelstücke,
Zog schlechterdings mich nicht zurücke,
Sprach laut wenn ich den Sturm befahl!

War eine Vestung eingenommen,
Dann ließ ich meine Völker kommen
Drang tiefer ein in Feindes Land,
Marschirte listig hin und wieder
Hieb viele tausend Feinde nieder,
In allen Nesseln die ich fand.

Da lagen dann die kleinen Leichen,
Gefällt von meinen starken Streichen,
Bey tausenden gestreckt vor mir;
Stolz dacht ich mich als Ueberwinder
Ich war ein Kind, und wie die Kinder
Thun gar zu oft im Alter wir!

O meine Phantasie ist heftig,
Schon dazumahl war sie geschäftig,
Als ich noch meine Heerde trieb;
Itzt aber sieht sie andre Schlachten
Denkt die, die sich unsterblich machten,
Und den, der sich unsterblich schrieb!

Gedicht als Bild, zum Downloaden und Teilen

Gedicht: Wiegenliedchen von Anna Louisa Karsch

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Wiegenliedchen“ von Anna Louisa Karsch, das einem Enkel der Familien Sack und Spalding gewidmet ist, wirkt auf den ersten Blick wie ein harmloses Spielgedicht, entpuppt sich jedoch als tiefsinnige poetische Selbstreflexion über Kindheit, Fantasie und die eigene literarische Entwicklung. Mit einem augenzwinkernden Ton und autobiografischen Elementen zeichnet Karsch das Porträt eines Mädchens, das sich früh vom gesellschaftlich Erwarteten abwandte und stattdessen in geistigen und imaginären Welten lebte.

Zu Beginn grenzt sich das lyrische Ich bewusst von populären Freizeitvergnügungen ab: Weder Karten- noch Tanzspiel konnten sie begeistern, ihr Geist war „zu stoisch und zu trocken“. Diese Ablehnung wird nicht mit Bitterkeit, sondern mit selbstironischer Distanz geschildert – die Sprecherin erkennt, dass sie „ungelehrt“ blieb in den Dingen, die andere leicht erlernen. Stattdessen offenbart sie früh eine Begeisterung für Bücher, Helden und historische Fantasien, die sie intensiver beschäftigten als jede gesellschaftliche Etikette.

Besonders eindrucksvoll sind die Kindheitsschilderungen, in denen die junge Karsch imaginäre Kriegsspiele inszeniert. Sie wird zur Kommandantin ihrer eigenen Fantasiewelt, baut Schanzen, befiehlt Stürme und siegt über zahllose Feinde. Diese Szenen wirken spielerisch und zugleich symbolisch: Sie zeigen die kreative Energie eines Kindes, das nicht passiv konsumiert, sondern aktiv erschafft. Die „kleinen Leichen“ aus Nesseln sind dabei weniger grausam als vielmehr ein Beweis für die ernsthafte Hingabe an die eigene Vorstellungskraft.

Die letzte Strophe schlägt den Bogen zur Gegenwart. Die kindliche Fantasie ist geblieben, hat sich aber gewandelt. Heute beschäftigt sie sich nicht mehr mit erfundenen Schlachten, sondern mit historischen Gestalten und Dichtern, die sich einen Namen gemacht haben. Die Reflexion über den Dichter, „der sich unsterblich schrieb“, verweist dabei auch auf das eigene dichterische Streben: eine Sehnsucht nach Bedeutung, die nicht nur im Spiel, sondern auch im Werk Ausdruck finden will.

„Wiegenliedchen“ ist ein aufschlussreiches Selbstporträt in Versform – humorvoll, nostalgisch und zugleich selbstbewusst. Anna Louisa Karsch verknüpft hier Kindheitserinnerung mit dichterischer Berufung und zeigt auf leichte, fast erzählende Weise, wie früh der Same der Poesie in ihr gelegt wurde. Die Ironie des Titels – es ist alles andere als ein beruhigendes Wiegenlied – verstärkt den Kontrast zwischen äußerem Schein und innerer Leidenschaft.

Weitere Informationen

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Lizenz und Verwendung

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