Logo der Website, Schriftzug "Poesie Oase" mit Palmen umrandet.
, , , , , , , , , , , , , , , , , ,

Der Weidenbaum

Von

Die Muse flieht zu dir, einsamer Kranz von Weiden!
Wo ihr dein West in kühle Schatten winkt.
Ihr Bäume! die ringsum der Spree Gestade kleiden,
Wie oft mein Herz, die Ruhe in Strömen trinkt.

Seid ihr mein Lied! – Fern vom geschäftigen Getümmel
Wohnt die Natur, die das Einsame liebt
In euch, und rund umher wölbt sich ein heitrer Himmel.
Von keinem Rauch der stolzen Stadt getrübt.

Auf euren Wipfeln spielt mit ihren letzten Strahlen
Die Abendsonn‘ eh sie ins Meer sich senkt:
Noch will sie dich, o Spree! Mit flüss’gem Golde malen,
Eh‘ sie der neuen Welt ihr Antlitz schenkt.

Ein grüner Rasen, den Gesträuche wild umfangen
Beut zum kunstlosen Ruhesitz sich dar:
Wo haaricht über ihm der Weiden Blüten hangen:
In ihnen jauchzt der Vögel muntre Schar.

An seinem Rücken schwillt auf grünenden Terrassen
Ein Garten sanft zum schönsten Tempe an:
Hier schwitzt Vertumnus, ihn in Lauben einzufassen,
Und Bacchus pflanzet Traubenhügel dran.

Es ziert dein stilles Haus, worin die Weisheit wohnet,
O Sulzer! Den sie ihren Liebling nennt
Und ihm mit Freuden der Natur sein Forschen lohnet,
Die nur ihr Schüler schätzt und kennt.

Hier fließen ruhig dir die Tage deines Lebens,
Dem Dienst der ersten Göttin heilig, hin:
Wie Ströme, schwer wie von Gold, denn keiner fließt vergebens
Und jeder bringt dir Wahrheit zum Gewinn.

So sei sie stets vor dich mit ihren besten Schätzen
Freigiebig, und bei Enkeln einst dein Ruhm!
Noch lange dein Geschäft, die Schöpfung dein Ergötzen
Und dieser Garten dir Elysium!

Gedicht als Bild, zum Downloaden und Teilen

Gedicht: Der Weidenbaum von Anna Louisa Karsch

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Der Weidenbaum“ von Anna Louisa Karsch ist eine poetische Naturbetrachtung, die sich zugleich als Huldigung an einen Gelehrten – Johann Georg Sulzer – lesen lässt. In ruhigen, bildreichen Strophen entfaltet Karsch ein Idealbild des Rückzugs aus der Stadt in die Natur, wo Einsamkeit, Schönheit und Weisheit sich auf beglückende Weise verbinden. Die Weide am Spreeufer wird dabei zum Symbol des friedvollen, nachdenklichen Lebens im Einklang mit der Schöpfung.

Die ersten Strophen preisen die Natur als Zufluchtsort für die Muse, für das Dichten und Denken. Im Kontrast zur „stolzen Stadt“, die mit Rauch und Lärm verbunden ist, steht die ländliche Umgebung an der Spree als ein Ort reiner, ungetrübter Empfindung. Die Natur wird als lebendig und schöpferisch beschrieben – in der Weide rauscht der Wind, in den Bäumen jubiliert die Vogelwelt, und die Abendsonne vergoldet sanft die Landschaft. Diese Beschreibung ist nicht nur ästhetisch, sondern auch emotional: Das lyrische Ich findet hier innere Ruhe und Inspiration.

Im weiteren Verlauf des Gedichts geht die Naturbetrachtung über in eine allegorische Darstellung. Götter wie Vertumnus (Gott der Jahreszeiten und des Gartens) und Bacchus (Gott des Weins) erscheinen als Gestalter eines irdischen Paradieses. Der Garten wird zur Verkörperung einer höheren Ordnung, in der Natur, Kunst und Erkenntnis eins werden – ein Gegenentwurf zur Künstlichkeit und Hektik des urbanen Lebens.

Im Zentrum dieser Harmonie steht Sulzer, dem das Gedicht gewidmet ist. Er wird als „Liebling“ der Weisheit gepriesen, dem die Natur ihre Geheimnisse offenbart. Karsch zeichnet ihn als exemplarische Figur des aufgeklärten Forschers, dessen Leben einem ruhigen, aber bedeutungsvollen Fluss gleicht – wie ein Strom, der „nicht vergebens“ fließt und stets Wahrheit mit sich bringt. Die letzte Strophe wünscht ihm ein langes Wirken und ein bleibendes Andenken – seine Arbeit, so die Hoffnung, werde auch von zukünftigen Generationen geschätzt.

„Der Weidenbaum“ verbindet in kunstvoller Sprache Naturlyrik mit geistiger Verehrung. Karsch schafft ein poetisches Idealbild eines Lebens in der Natur und im Dienst der Erkenntnis – ein Leben, das Schönheit, Weisheit und Einfachheit miteinander versöhnt.

Weitere Informationen

Hier finden sich noch weitere Informationen zu diesem Gedicht und der Seite.

Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.