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Solitudo
Zerdrückt von dicken Wolkenmassen
Versickert auch der matte Mond.
Ein Herr geht durch die leeren Straßen
Und denkt: Wo jetzt die Sonne thront?
Er kommt von einem fernen Teiche,
Darein er tags die Angel hielt,
Obwohl des Wassers stille Bleiche
Nicht einen einzigen Fisch enthielt.
So war es, wie es sollte, einsam…
Man saß und fand sich restlos da…
Man hatte diese Welt gemeinsam
Nur mit dem Auge, das sie sah.
Dann kam ihm Sehnsucht nach sich selber
(Nicht spiegelte der trübe Teich)
Er zog sich aus und trat in gelber
Behaarter Haut hinein. Sogleich
Im Geist, daran’s so vielen mangelt,
Am Ufer angelnd sah er sich,
Und fühlte sich von sich geangelt
Und zuckte um sein spitzes Ich.
Der Unken stolperndes Gemecker
Belebte ihn; der Sonne Glut
Erhielt so wie ein lauter Wecker
Der lieblos müden Stirn den Mut.
Indessen Sonne ist ein Wandern.
O weh, wie dunkel wird es schon!
Jetzt wieder rückwärts zu den andern . .
Das Herz gibt einen kranken Ton.
Er tröstet sich mit weichem Rate:
Man kann erwarten, still im Wald,
Bis sich die Stadt mit allem Staate
Ins Schlafgemach beiseite ballt.
– Nun Mitternacht… entseelte Straßen
Verlässt der tödlich matte Mond
Wie alle Sterne sie verlassen.
Er denkt Wo jetzt die Sonne thront?
Geht auf den schallend öden Steinen,
Verheimlicht seltsam seinen Lauf.
Sieht plötzlich zu dem dichten Scheinen
Der sanft verhängten Fenster auf.
Was willst du? Rührt dich diese Kette,
Die all die Schlafenden umschlingt?
Wie sie in warmem Licht, als rette
Sie Träume vor dem Nichts, erblinkt?
Doch da .. wie zwischen Feen Gespenster
– In jenem Hause, rings verlacht,
Einsame Löcher, stehn zwei Fenster
Vorhanglos, arm, durchbohrt von Nacht.
Er steigt mit überhorchtem Tritte
An dem Geländer lang hinan.
Und steht in seiner Stube Mitte.
Und starrt die leeren Höhlen an.
Es setzt ihn heute so in Schrecken…
Macht ihm den Kopf so schwach und krumm…
Er nimmt von seinem Bette Decken
Und hängt sie rasch den Fenstern um.
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Solitudo“ von Alfred Wolfenstein thematisiert eine existenzielle Einsamkeit, die sich durch alle Strophen zieht und in einer fast surrealen Selbstbegegnung kulminiert. Der Titel, lateinisch für „Einsamkeit“, weist bereits auf das zentrale Motiv hin. Der Sprecher durchstreift eine nächtliche Stadt, durchzogen von Leere und Bedeutungslosigkeit, und wird dabei nicht nur Zeuge der äußeren Welt, sondern vor allem seiner eigenen inneren Isolation.
Wolfenstein setzt dabei eine Vielzahl symbolischer und surrealer Bilder ein, um den Zustand der Entfremdung und der Selbstsuche zu verdeutlichen. Der Angelteich ohne Fische steht als Metapher für ein vergebliches Suchen nach Sinn oder Resonanz. Die Szene, in der der Sprecher sich selbst „auszieht“ und in seine „gelbe behaarte Haut“ tritt, ist grotesk und zugleich tief psychologisch – sie symbolisiert einen Versuch der Rückkehr zum Ursprünglichen, zu einem authentischen Selbst, das aber ebenfalls nur als Beobachter erscheint: „Und fühlte sich von sich geangelt“. Dieses Bild zeigt die Zerrissenheit des Ichs, das sich selbst nicht erreicht.
Sprachlich fällt auf, wie Wolfenstein zwischen dunkler Melancholie und absurdem Humor schwankt. Der „Unken stolperndes Gemecker“ oder die „lieblos müde Stirn“ zeigen, wie stark das Gedicht von grotesken Elementen durchzogen ist. Trotz dieser surreale Momente bleibt die Erfahrung des lyrischen Ichs tief menschlich: Die Sonne wird zum Hoffnungsträger, aber auch zum Symbol der Vergänglichkeit, da sie „ein Wandern“ ist. Der Tag bringt keine Lösung, nur eine kurze Aufhellung, bevor die Dunkelheit zurückkehrt.
Die Schlussszene bringt die ganze Tragik dieser Einsamkeit auf den Punkt: Inmitten der warm leuchtenden, verschlossenen Fenster entdeckt der Sprecher zwei offene, ungeschützte Fenster – seine eigenen. Sie erscheinen ihm wie „leere Höhlen“, durchbohrt von der Nacht. Die plötzliche Erkenntnis seiner Isolation, die bis dahin fast wie ein philosophisches Spiel wirkte, trifft ihn nun existenziell: Er fühlt sich bloßgestellt, verletzlich, ausgeliefert. Das hastige Zuziehen der Vorhänge ist ein symbolischer Akt des Rückzugs, vielleicht auch der Verzweiflung über eine Welt, in der selbst das eigene Zuhause kein Trost mehr bietet.
„Solitudo“ ist ein eindringliches Großstadtgedicht der Expressionismuszeit, das den modernen Menschen in seiner inneren Zersplitterung zeigt. Wolfenstein gelingt es, mit dichter Bildsprache und einer Mischung aus Ironie und Ernst die existenzielle Vereinsamung im Spiegel urbaner Leere darzustellen.
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Lizenz und Verwendung
Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.