Logo der Website, Schriftzug "Poesie Oase" mit Palmen umrandet.
, , , , , , , , ,

Natur

Von

Unaufhaltsam schrumpft der Himmel, Wolken
Kommen breit aus allen Horizonten,
Fahle fremde Schattenkörper kalken
Ihre Decke über den entsonnten.

Und die Erde, trübe abgeschnitten,
Hat ein hoher Stern zu sein geendet
Meine Augen, die es machtlos litten,
Stehn von Zorn und Gräue abgeblendet.

Wetter, werdend ohne meine Hände,
Wie ein Schicksal ungewollt und wehe,
Treibt mich nun zur Stadt und in die Wände,
Deren stete Enge ich verstehe.

Gedicht als Bild, zum Downloaden und Teilen

Gedicht: Natur von Alfred Wolfenstein

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht Natur von Alfred Wolfenstein schildert eine bedrohliche Veränderung der Natur, die nicht mehr als lebensspendender oder harmonischer Raum erscheint, sondern als etwas Fremdes, Dunkles und Abweisendes. Das lyrische Ich erlebt die Natur nicht als Rückzugsort, sondern als sich verschließenden, feindlichen Raum, der es letztlich in die Enge der Stadt zurücktreibt. Wolfenstein gestaltet hier ein stark expressionistisches Naturbild, das weniger der äußeren Realität als dem inneren Zustand des modernen Menschen entspricht.

Bereits in der ersten Strophe zeigt sich eine Umkehrung des traditionellen Naturideals. Der Himmel „schrumpft“, wird also nicht als Weite, sondern als sich verengender Raum wahrgenommen. Die „Wolken“ kommen bedrohlich „aus allen Horizonten“ und wirken wie eine Invasion. Besonders die „fahlen fremden Schattenkörper“ erzeugen eine unheimliche Atmosphäre – sie „kalken ihre Decke“, was an das Überziehen eines Leichentuchs erinnert. Das Bild ist kühl, fast tot, und verweist auf eine entseelte, von Licht („entsonnten“) befreite Welt.

In der zweiten Strophe wird diese Bedrohung noch deutlicher. Die Erde ist „trübe abgeschnitten“ – von was, bleibt offen, doch das Bild suggeriert eine Isolation, vielleicht vom Licht, vom Kosmos oder von einer höheren Ordnung. Der „hohe Stern“, Symbol für Orientierung oder Hoffnung, hat aufgehört zu existieren („zu sein geendet“). Die Reaktion des lyrischen Ichs ist ambivalent: Es „litten“ diese Veränderung „machtlos“, ist aber zugleich von „Zorn und Gräue“ erfüllt. Diese emotionale Mischung verweist auf den Schock, den die Entfremdung von der Natur auslöst.

Die dritte Strophe schildert schließlich die Konsequenz: Das Wetter – eine Metapher für das Wirken der äußeren Kräfte – geschieht „ohne meine Hände“, also ohne Einfluss des Menschen, und es wird zum Schicksal, das ungewollt und schmerzhaft wirkt. Der Mensch sieht sich gezwungen, in die Stadt zurückzukehren – nicht als freiwillige Wahl, sondern als Flucht. Die „Wände“ der Stadt, sonst oft als Symbol der Einengung gedeutet, erscheinen hier fast verständlich und vertraut – ein paradoxes Bild, das die tiefe Entfremdung zur natürlichen Welt unterstreicht.

Natur ist damit ein Gedicht über den Verlust des Einklangs mit der Umwelt und über das subjektive Erleben einer feindlich gewordenen Wirklichkeit. Wolfenstein verbindet äußere Wetterbilder mit innerer Zerrissenheit und formuliert eine existentielle Verlorenheit, wie sie typisch für den expressionistischen Blick auf die moderne Welt ist. Die Natur ist nicht mehr Zuflucht, sondern Ausdruck eines unverständlichen, unkontrollierbaren Schicksals.

Weitere Informationen

Hier finden sich noch weitere Informationen zu diesem Gedicht und der Seite.

Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.