Ernüchterung
Die Straße war so asphaltiert zu schreiten,
In Ordnung brannten rosa Bogensterne
– Nun richtet sich die Treppe teuflisch auf,
Der düstren Stufen eckige Wogen reiten
Durch ihres Hauses vorgetäuschte Ferne,
Verwirrend meinen lange ebnen Lauf.
Es widert mich, das Knie so steil zu rühren.
Der Füße unbetonten Schritt zu lassen –
Verworfnes Pathos! – so belogen mich
Des Tags Gespräche prahlend, hinzuführen
Nach wilden Höhen aus den flachen Gassen
– Doch die Gebärde endigte in sich.
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht Ernüchterung von Alfred Wolfenstein beschreibt die enttäuschte Erfahrung eines lyrischen Ichs, das nach einem scheinbar geordneten, sicheren Weg plötzlich mit einer düsteren, widersprüchlichen Realität konfrontiert wird. Die anfängliche Erwartung eines linearen Fortschritts wird durch eine jäh aufsteigende, chaotische „Treppe“ durchbrochen – ein Bild für die plötzliche Desillusionierung und das Scheitern erhöhter Hoffnungen.
Die erste Strophe stellt die Illusion einer geordneten Welt dar: „Die Straße war so asphaltiert zu schreiten“, alles scheint geplant, glatt und leicht begehbar. Sogar die Sterne am Himmel sind „in Ordnung“, rosafarben und schön arrangiert. Doch diese heile Welt erweist sich als trügerisch. Die „Treppe“ – Symbol für einen Aufstieg, vielleicht auch für persönliche oder geistige Entwicklung – richtet sich „teuflisch“ auf. Die plötzliche Steigung bringt das vorherige Gleichgewicht ins Wanken: Die Stufen erscheinen „düster“, „eckig“ und „verwirrend“. Der als sicher empfundene Lebensweg wird zur unheimlichen Erfahrung, die das lyrische Ich aus der Bahn wirft.
In der zweiten Strophe verstärkt sich diese Erfahrung der Ernüchterung. Das Aufsteigen wird nun als körperlich unangenehm beschrieben – „es widert mich“ –, das Gehen fällt schwer, der gewohnte Schritt verliert seine Selbstverständlichkeit. Das lyrische Ich erkennt, dass es betrogen wurde: Gespräche, die noch am Tage zur „Höhe“ führen wollten, entlarven sich als leeres „Pathos“, als aufgeblasene Versprechen ohne Substanz. Die „flachen Gassen“ der Realität wurden nicht verlassen, stattdessen endet jede „Gebärde“ – jede Bewegung, jeder Versuch – in sich selbst, ohne Ziel oder Erfüllung.
Wolfenstein nutzt starke Kontraste zwischen Bewegung und Stillstand, Licht und Dunkel, Hoffnung und Desillusion. Die Sprache ist kühl, teils abweisend, aber zugleich rhythmisch verdichtet und suggestiv. Besonders eindrucksvoll ist die Darstellung der „eckigen Wogen“ und der „vorgetäuschten Ferne“ – Bilder, die das Missverhältnis zwischen Wunsch und Wirklichkeit poetisch verdichten.
Ernüchterung ist somit ein Gedicht über die Desillusionierung durch falsche Versprechen – sei es im persönlichen, gesellschaftlichen oder spirituellen Sinn. Die Erfahrung einer abrupten, chaotischen Wirklichkeit ersetzt die Illusion linearer Entwicklung. Wolfenstein zeigt, wie das Streben nach Sinn und Erhöhung in der nüchternen Konfrontation mit der Welt oft scheitert – ein zentrales Motiv des Expressionismus.
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Lizenz und Verwendung
Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.