Nebel
Ein Nebel hat die Welt so weich zerstört.
Blutlose Bäume lösen sich in Rauch.
Und Schatten schweben, wo man Schreie hört.
Brennende Biester schwinden hin wie Hauch.
Gefangne Fliegen sind die Gaslaternen.
Und jede flackert, daß sie noch entrinne.
Doch seitlich lauert glimmernd hoch in Fernen
Der giftge Mond, die fette Nebelspinne.
Wir aber, die, verrucht, zum Tode taugen,
Zerschreiten knirschend diese wüste Pracht.
Und stechen stumm die weißen Elendsaugen
Wie Spieße in die aufgeschwollne Nacht
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Nebel“ von Alfred Lichtenstein ist ein düsteres, expressionistisches Bild der Entfremdung, Desillusionierung und Bedrohung. Es zeigt eine albtraumhafte Welt, in der Orientierung und Wirklichkeit in einem giftigen Nebel verschwimmen. Der Text verdichtet die Empfindung moderner Lebensangst zu einer Szenerie voller surrealer und verstörender Bilder.
Schon der erste Vers bringt die Grundstimmung auf den Punkt: „Ein Nebel hat die Welt so weich zerstört.“ Der Kontrast zwischen der Zerstörung und dem sanften Wort „weich“ unterstreicht die Lautlosigkeit und Unaufhaltsamkeit dieser Verwandlung. Die Natur erscheint entleert und unheimlich – „blutlose Bäume“ und „brennende Biester“ verwandeln sich in Rauch und Hauch, als ob selbst Schmerz und Leben sich im Nebel auflösen.
In der zweiten Strophe intensiviert Lichtenstein das surreale Bild: Die „Gaslaternen“ sind „gefangne Fliegen“ – ein Vergleich, der das Gefühl von Hilflosigkeit und Vergeblichkeit transportiert. Der „giftge Mond“, als „fette Nebelspinne“, wird zum Sinnbild einer alles verschlingenden Bedrohung, die aus dem Hintergrund lauert. Diese Personifikation des Himmelskörpers verstärkt das Gefühl einer feindlichen Umwelt, in der sogar das Licht unheimlich wirkt.
In der letzten Strophe tritt das lyrische Ich hervor – oder besser: das kollektive „Wir“, das „verrucht“ ist und „zum Tode taugt“. Diese Selbsteinschätzung wirkt resigniert und verloren. Die Menschen bewegen sich durch eine „wüste Pracht“, der Boden knirscht, der Nebel wirkt wie ein Friedhof. Die „weißen Elendsaugen“, die „stechen“, können als Bild für das Leid, die Schuld oder das Grauen in der Welt gelesen werden – und zugleich als Projektion innerer Angst.
„Nebel“ ist ein typisches Beispiel für die expressionistische Dichtung: Die Realität wird entstellt, überhöht und mit drastischen Bildern aufgeladen, um das innere Empfinden einer entfremdeten, chaotischen Welt auszudrücken. Lichtenstein gelingt es, in nur drei Strophen ein Gefühl von existenzieller Bedrohung, Schuld und Verlorenheit zu evozieren – in einer Welt, in der selbst Licht und Luft feindlich geworden sind.
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Lizenz und Verwendung
Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.