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Vergeltung

Von

Wie der Mai du anzuschauen,
Wonnereiche, Zarte, Feine,
Mit des Haares Gold, der blauen
Klaren Augen Himmelsreine;
Mit den Lippen von Korallen,
Mit der Gabe zu gefallen,
Holdes, süßes Mägdelein, –
Mußt, unseligste von allen,
Du des Henkers Tochter sein?!

Und der Vater kam nach Hause
Düstern, fast verstörten Mutes;
Ihn verfolgt das Bild, das grause,
Des am Tag vergoßnen Blutes: –
Haben, die den Stab gebrochen,
Nach den Rechten auch gesprochen,
Schreit um Rache doch dies Blut;
Jene Rechte sind bestochen,
Sind der Unterdrücker Gut.

Ja, die Mächt’gen, die Beglückten,
Ja, die Götter dieser Erden!
Ihnen muß der Unterdrückten
Sühnend Blut geopfert werden;
Rein von Blut sind ihre Hände,
Das Gesetz verlangt die Spende,
Wie der Richter selber spricht;
Ich, Verworfner, bring’s zu Ende,
Ob das Herz darob mir bricht.

Recht und Freiheit! rufen wollte
Dieser noch, da scholl der dumpfe
Trommelschlag, – ein Wink, – es rollte
Schnell sein Haupt getrennt vom Rumpfe.
Morgen werden Mütter weinen,
Morgen folgen zwei dem einen,
Und gebrandmarkt werden drei! –
Möchte noch der Tag mir scheinen,
Wo Vergeltung Losung sei! –

Wühlt in seines Herzens Wunden
So der Alte trüb und trüber,
Und die nächtlich bangen Stunden
Ziehen träg an ihm vorüber;
Ewig scheint die Nacht zu dauern;
Wahngebilde sieht er lauern,
Wo sein Auge starrend ruht;
Sieht an den geweißten Mauern
Rieseln der Gerechten Blut.

Und er hofft die düstern Sorgen
Sich beschäft’gend abzustreifen,
Im voraus zum andern Morgen
Will er Beil und Messer schleifen,
Will am Herde sich bemühen
Noch die Stempel auszuglühen,
Die er morgen brauchen soll; –
Blutrot sieht er Funken sprühen
Um das Eisen schreckenvoll.

Blut und Blut! Die grausen Bilder
Stürmen auf ihn ein und hadern,
Es empöret wild und wilder
Sich das Blut in seinen Adern;
Frieden hofft er nur zu finden,
Sich der Angst nur zu entwinden
In der reinen Unschuld Näh: –
Dieser Spuk, er wird verschwinden,
Wann ich meine Tochter seh.

Nahen will ich ihr, mich halten
Ihr zu Häupten, nur sie schauen,
Zum Gebet die Hände falten
Und auf meinen Gott vertrauen. –
Wie er sagte, also tat er,
Sorglich, leisen Schrittes naht‘ er,
Nicht zu stören ihre Ruh; –
Was, verzweiflungsvoller Vater,
Zuckst dein scharfes Messer du?

Ach du siehest, weh dir Armen!
Siehst den Wüstling, siehst den Grafen,
Siehst der Tochter in den Armen
Den Verführer eingeschlafen.
Im Begriff, den Stoß zu führen,
Wirst du andres noch erküren,
Ja! du wirfst das Messer weit, –
Zeit war’s, jene Glut zu schüren,
Und der Stempel liegt bereit. –

Wirst nicht, Schandbub, mit dem Leben
Nur die Freveltat mir büßen;
Werde meinen Fluch dir geben,
Und du wirst dich krümmen müssen,
Trage du auf deiner bleichen
Stirne dieses Kainszeichen,
Eingebrannt von meiner Hand!
Magst so ungefährdet schleichen,
Mann der Sünde, durch das Land.

Zischend brennt sich ein das Eisen,
Schreiend fährt er aus dem Schlafe,
Und erblickt den grimmen Greisen
Mit dem Werkzeug seiner Strafe. –
„Zeuch von hinnen! dein Erwachen
Möge den noch glaubend machen,
Der Vergeltung nicht geglaubt;
Gott ist mächtig in dem Schwachen“:
Spricht’s und wiegt sein graues Haupt.

Gedicht als Bild, zum Downloaden und Teilen

Gedicht: Vergeltung von Adelbert von Chamisso

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Vergeltung“ von Adelbert von Chamisso behandelt auf eindrucksvolle Weise die Themen Schuld, Gerechtigkeit, soziale Ungleichheit und Rache. Im Zentrum steht ein innerlich zerrissener Vater, der als Henker im Dienst eines ungerechten Systems steht und zugleich mit der Unschuld und Reinheit seiner Tochter konfrontiert ist. Der Spannungsbogen des Gedichts reicht von der zarten Beschreibung der Tochter bis hin zur drastischen Szene der Bestrafung eines adeligen Verführers.

Das Gedicht beginnt mit einem starken Kontrast: Die Tochter wird als Inbegriff von Schönheit und Unschuld geschildert – ein „süßes Mägdelein“ mit „blauen / klaren Augen“, doch sie ist ausgerechnet die Tochter eines Henkers. Diese Kluft zwischen äußerer Reinheit und sozialer Stigmatisierung bringt das Gedicht früh zum Ausdruck. Der Vater hingegen ist von Schuldgefühlen und inneren Qualen gezeichnet. Er erkennt die Ungerechtigkeit seines eigenen Tuns: Die „Götter dieser Erden“, also die Mächtigen, fordern das Blut der Unterdrückten, während das Rechtssystem korrumpiert ist.

Diese Kritik an der Obrigkeit gipfelt in der Darstellung einer öffentlichen Hinrichtung, bei der der Hingerichtete noch „Recht und Freiheit“ rufen will. Die kalte Maschinerie der Macht, deren Werkzeug der Vater ist, wird hier als seelenloses Unrecht entlarvt. Das Motiv des „gerechten Bluts“ kehrt wieder, das sich gegen die Bestechlichkeit und Brutalität des Systems auflehnt. Zugleich steigert sich die seelische Zerrissenheit des Vaters, der in düsteren Bildern und Alpträumen gefangen ist und sich in der Gegenwart seiner Tochter Trost zu erhoffen scheint.

Doch gerade diese Hoffnung schlägt um in noch größere Verzweiflung: Er entdeckt den „Wüstling“, den adeligen Verführer, schlafend im Schoß seiner Tochter. Der Moment der möglichen Blutrache wird drastisch in Szene gesetzt – doch der Vater entscheidet sich gegen den Mord. Stattdessen brennt er dem Grafen ein „Kainszeichen“ in die Stirn, ein Symbol für Schuld, das der Täter öffentlich tragen muss. Hier wird eine neue Form von Vergeltung sichtbar: nicht durch Tod, sondern durch ewige Scham und gesellschaftliche Brandmarkung.

Mit dieser Handlung findet der Vater einen paradoxen Akt der Gerechtigkeit – ein Zeichen, dass „Gott […] mächtig in dem Schwachen“ ist. Das Gedicht zeigt auf erschütternde Weise, wie tief die persönliche Schuld und die politische Verantwortung miteinander verwoben sind. Es endet mit einer bitteren, resignativen Würde: Die Strafe ist vollzogen, nicht im Namen des Gesetzes, sondern im Namen einer höheren moralischen Ordnung, die der schwache, gebrochene Henker mit letzter Kraft selbst hergestellt hat.

Weitere Informationen

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Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.