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Der alte Sänger

Von

Sang der sonderbare Greise
Auf den Märkten, Straßen, Gassen
Gellend, zürnend seine Weise:
„Bin, der in die Wüste schreit.
Langsam, langsam und gelassen!
Nichts unzeitig! nichts gewaltsam!
Unablässig, unaufhaltsam,
Allgewaltig naht die Zeit.

Torenwerk, ihr wilden Knaben,
An dem Baum der Zeit zu rütteln,
Seine Last ihm abzustreifen,
Wann er erst mit Blüten prangt!
Laßt ihn seine Früchte reifen
Und den Wind die Äste schütteln!
Selber bringt er euch die Gaben,
Die ihr ungestüm verlangt.“

Und die aufgeregte Menge
Zischt und schmäht den alten Sänger:
„Lohnt ihm seine Schmachgesänge!
Tragt ihm seine Lieder nach!
Dulden wir den Knecht noch länger?
Werfet, werfet ihn mit Steinen!
Ausgestoßen von den Reinen
Treff ihn aller Orten Schmach!“

Sang der sonderbare Greise
In den königlichen Hallen
Gellend, zürnend seine Weise:
„Bin, der in die Wüste schreit.
Vorwärts! vorwärts! nimmer lässig!
Nimmer zaghaft! kühn vor allen!
Unaufhaltsam, unablässig,
Allgewaltig drängt die Zeit.

Mit dem Strom und vor dem Winde!
Mache dir, dich stark zu zeigen,
Strom- und Windeskraft zu eigen!
Wider beide, gähnt dein Grab.
Steure kühn in grader Richtung!
Klippen dort? die Furt nur finde!
Umzulenken heischt Vernichtung;
Treibst als Wrak du doch hinab.“

Einen sah man da erschrocken
Bald erröten, bald erblassen:
„Wer hat ihn herein gelassen,
Dessen Stimme zu uns drang?
Wahnsinn spricht aus diesem Alten;
Soll er uns das Volk verlocken?
Sorgt, den Toren festzuhalten,
Laßt verstummen den Gesang.“

Sang der sonderbare Greise
Immer noch im finstern Turme
Ruhig, heiter seine Weise:
„Bin, der in die Wüste schreit.
Schreien mußt ich es dem Sturme;
Der Propheten Lohn erhalt ich!
Unablässig, allgewaltig,
Unaufhaltsam naht die Zeit.“

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Gedicht: Der alte Sänger von Adelbert von Chamisso

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Der alte Sänger“ von Adelbert von Chamisso zeigt die Figur eines alten, sonderbaren Sängers, der unermüdlich und mit einer prophetischen Stimme auf den Lauf der Zeit hinweist. Der Sänger, der durch Märkte, Straßen und königliche Hallen zieht, fordert mit seinen Gesängen sowohl die Menschen als auch die Zeit selbst heraus. In den ersten Strophen betont der alte Sänger das langsame und unaufhaltsame Voranschreiten der Zeit und warnt die „wilden Knaben“ davor, die natürliche Entwicklung der Dinge mit Hast und Gewalt zu beschleunigen. Er vergleicht die Zeit mit einem Baum, der seine Früchte erst dann tragen kann, wenn er die nötige Reife erreicht hat, und fordert die Menschen auf, Geduld zu haben und die Früchte abzuwarten, die die Zeit von selbst hervorbringt.

Die Reaktion der Menge auf seine Botschaft ist aggressiv und ablehnend. Die Menschen können den alten Sänger nicht ertragen und verspotteten ihn mit Zischlauten und Schmähen. Der Chor der Menschen spricht von ihm als einem „Knecht“, dessen „Schmachgesänge“ man nicht länger ertragen möchte. Diese ablehnende Haltung zeigt eine gesellschaftliche Reaktion auf den Sänger, die die Unfähigkeit oder den Widerwillen der Gesellschaft, die Bedeutung der Zeit und die Weisheit des Sängers zu erkennen, widerspiegelt. Der „alte Sänger“ wird zu einem Außenseiter, dessen prophetische Stimme in der Gesellschaft nicht gehört werden will.

In den weiteren Strophen, die in königlichen Hallen und finsteren Türmen spielen, wiederholt der Sänger seine Botschaften – dieses Mal jedoch in einem direkteren, aggressiveren Ton. Er ruft dazu auf, gegen den Strom und gegen den Wind anzukämpfen, als eine Art Aufruf zur Widerstandskraft und zum Mut. Doch seine Warnung wird von denen, die ihn hören, als Wahnsinn abgestempelt. Die Menschen, die ihn hören, reagieren erneut mit Scham und Unverständnis. Der Sänger steht somit als Symbol für die Stimme der Vernunft und Weisheit, die in einer Gesellschaft oft überhört und verspottet wird.

Am Ende des Gedichts bleibt der alte Sänger trotz des Widerstandes und der Verachtung, die ihm entgegenschlägt, standhaft und bleibt seiner prophetischen Aufgabe treu. Er erkennt den „Lohn“ des Propheten, der oft mit Widerstand und Ablehnung konfrontiert wird. Seine Botschaft, dass die Zeit unaufhaltsam voranschreitet, bleibt dabei eine ewige Wahrheit, die die Gesellschaft entweder ignoriert oder in ihrer Hektik und Unruhe nicht wahrnehmen will. Chamisso zeichnet hier das Bild eines Außenseiters, der die Wahrheit spricht, aber in seiner Zeit nicht gehört wird.

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Lizenz und Verwendung

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