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Anno Domini…?

Von

Hört mich, Kleingläubige! – wie vormals im Gefilde
Der Marne bei Chalons die Sünderin Brunhilde
Durch Knechte binden ließ mit ihrem grauen Haar
An einen wilden Hengst, daß an dem dichten Schweife
Er galoppirend sie durch´s Frankenlager schleife,
Der Sohn des Chilperich, der andere Chlotar;

Der Hengst riß wiehernd aus; die Hinterhufe schlugen
Das nachgeschleppte Weib, verrenkt in seinen Fugen
Ward jedes Glied an ihr; um ihr entstellt Gesicht
Flog ihr gebleichtes Haar; die spitzen Steine tranken
Ihr königliches Blut, und schaudernd sahn die Franken
Chlotars, des Zürnenden, erschrecklich Strafgericht;

Jetzt auf ihr Antlitz, das blutrünst´ge, fiel der rothen
Wachtfeuer Glut, die da vor jedem Zelte loh´ten;
Jetzt wusch mit eis´gem Guß den Staub von ihrer Stirn
Ein Arm des Marnestroms; weit vorgequollen stierte
Ihr Aug´, und das Kameel, drauf man sie Morgens führte
Durch´s ganze Heer, ward jetzt bespritzt von ihrem Hirn:

So wird dereinst, hört mich, ihr Kalten und Verständ´gen,
Der Herr ein feurig Roß, das flammend in unbänd´gen
Courbetten schießt durch den Abgrund des Raumes hin,
Den feurigsten von den Kometen wird er senden,
Und wird an dessen Schweif mit seines Zornes Händen
Die Erde fesseln, die bejahrte Sünderin.

Aus ihrer Bahn, die sie sklavisch hat wandeln müssen
Vom Anbeginn, wird sie durch seine Kraft gerissen;
Sie muß ihm folgen als Trabant; tief in den Raum
Schleift er sie mit sich fort; er schnaubt, und Funken sprühen
Durch´s All; sein Schweif durchweht es stolz; denn mit sich ziehen
Die Erde darf er – Gott verhängte seinen Zaum.

Wer hält den Rasenden? – die Sonne tritt zurücke,
Und steht zuletzt so fern, daß sie nicht Eines Blicke
Mehr sichtbar ist; dann wird es kalt und finster sein,
Und jezuweilen nur, wenn sie den Grenzen neuer,
Entfernter Sonnen nahn, wird, wie des Lagers Feuer
Dem Antlitz der Brunhild, so dieser Sonnen Schein

Dem zuckenden Gesicht der Erde, der halbtodten,
Ein flackernd, gräßlich Licht zuwerfen; im blutrothen
Gewande steht alsdann der Himmel; siedend zischt
Die See. Vorüber schießt der Wilde, von der Hitze
Gejagt. Nacht folgt auf´s Neu dem momentanen Blitze;
Schwarz wird die Erde, gleich der Kohle, die erlischt,

Und bebt vor Kälte; bis, wenn lange Zeit verronnen,
Sie wieder deine Glut fühlt, mildeste der Sonnen,
Einst ihre Mutter du! Bei deinem ersten Strahl
Zuckt sie vor Lust; das Eis zerschmilzt, die Quellen rinnen
Wie Freudenthränen; doch zum andern Mal von hinnen
Reißt sie das Flammenroß, und neu wird ihre Qual.

Doch endlich wird geleert sein deines Zornes Schale,
O Herr! – du winkst! – sie brennt! sie glüht zum ersten Male
In eignem Licht, doch ist es eines Dochtes Brand,
Der sich durch Glühn verzehrt. Die Schöpfung sieht mit Staunen
Das Sterben einer Welt; alsdann hört man Posaunen,
Und die Wagschale schwebt in des Weltrichters Hand.

Ein Flammengürtel blitzt und wallt von Pol zu Pole;
Die Berge stürzen sich mit Zischen in die Soole
Des Meers; bis an den Mond weht Lohe, Schaum und Rauch;
Und – doch, dann will ich mich empor im Grabe richten,
Und will, wenn ich es kann, dies Lied zu Ende dichten –
Ich zittre; mit der Hand bedeck´ ich Stirn und Aug´.

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Gedicht: Anno Domini...? von Ferdinand Freiligrath

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Anno Domini…?“ von Ferdinand Freiligrath ist eine apokalyptische Vision, die das Ende der Welt in drastischen Bildern entwirft. Die Struktur des Gedichts ist komplex und vielschichtig, wobei die Erzählung in zwei Hauptteile zerfällt: eine historische Analogie und eine futuristische Prophezeiung des Weltuntergangs. Freiligrath beginnt mit einem Vergleich zur grausamen Hinrichtung Brunhildes, um die Härte und das unerbittliche Urteil zu verdeutlichen, das der zukünftige Untergang mit sich bringen wird. Dieser Einstieg dient als düstere Metapher für das, was kommen soll.

Im zweiten Teil entfaltet sich die eigentliche Vision der Apokalypse. Der „Herr“ wird hier als ein feuriges Roß personifiziert, das die Erde an seinen Schweif fesselt und durch den Raum schleift. Diese Metapher der Zerstörung ist von beispielloser Gewalt. Die Erde wird von ihrer Bahn gerissen, in eine kalte, finstere Leere geschleppt, und von den letzten Sonnenstrahlen nur noch flüchtig erhellt. Die Beschreibung der verwüsteten Erde ist geprägt von Bildern der Zerstörung, des Feuers, des Eises und der Auflösung. Die Sonne selbst scheint sich vor diesem Inferno zu verstecken.

Die zentralen Themen des Gedichts sind Zorn, Gericht und Erlösung. Der Zorn des Herrn manifestiert sich in der Zerstörung der Welt, während das Gericht als die letzte Instanz über Gut und Böse dargestellt wird. Die wiederholten Bilder von Feuer, Zerstörung und Kälte erzeugen eine beklemmende Atmosphäre und unterstreichen die Endgültigkeit des Untergangs. Die Hoffnung auf Erlösung scheint nur in dem Hoffnungsschimmer der Wiedergeburt durch die Sonne zu liegen, die jedoch von erneutem Leid gefolgt wird, bis die Schöpfung schließlich in Flammen aufgeht.

Die Sprache des Gedichts ist pathetisch und bildreich, reich an Metaphern und Vergleichen. Freiligrath verwendet eine eindringliche und dramatische Sprache, um die gewaltigen Ereignisse darzustellen. Die häufigen Enjambements und der rhythmische Fluss unterstützen die dynamische Bewegung der apokalyptischen Vision. Das Gedicht endet mit einem Gefühl der Ehrfurcht und des Grauens, der Sprecher versucht, die Vision zu verarbeiten und die Unvorstellbarkeit des Ereignisses zu begreifen. Die Verwendung von Bildern aus der Natur, wie Sonne, Meer, Berge und Feuer, verstärkt die Universalität des Themas.

Weitere Informationen

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Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.