Aus der Dämmerung
In Kapellen mit schrägen Gewölben· zerfallnen Verließen
und Scheiben flammrot wie Mohn und wie Perlen grün
und Marmoraltären über verwitterten Fliesen
sah ich die Nächte wie goldne Gewässer verblühn:
der schlaffe Rauch zerstäubt aus geschwungnen Fialen
hing noch wie Nebel schwankend in starrender Luft·
auf Scharlachgewirken die bernsteinschillernden Schalen
schwammen wie Meergrundwunder im bläulichen Duft.
In dämmrigen Nischen die alten süßen Madonnen
lächelten müd und wonnig aus goldrundem Schein.
Rieselnde Träume hielten mich rankend umsponnen·
säuselnde Lieder sangen mich selig ein.
Des wirbelnden Frühlings leise girrendes Locken·
der Sommernächte Duftrausch weckte mich nicht:
Blaß aus Fernen läuteten weiße Glocken . .
Grün aus Kuppeln sickerte goldiges Licht . .
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Aus der Dämmerung“ von Ernst Stadler beschreibt eine kontemplative Reise durch eine sakrale, verfallene Welt, in der die Grenze zwischen Realität und Traum verschwimmt. Stadler entwirft ein Bild von verlassenen Kapellen, die von der Vergangenheit durchdrungen sind und in denen die Zeit in einer Art Stillstand verharrt. Die Beschreibungen sind reich an Farben und Bildern, die eine Atmosphäre der Melancholie und der Sinnlichkeit erzeugen. Der Dichter scheint sich in diesem Raum der Stille und der Schönheit zu verlieren.
Die ersten beiden Strophen schaffen eine visuelle Atmosphäre. Die „schrägen Gewölben“ und „zerfallnen Verließen“ deuten auf den Verfall und die Vergänglichkeit hin, während die „flammrot[en]“ und „grün[en]“ Scheiben einen Kontrast von Lebendigkeit inmitten des Verfalls darstellen. Die Metaphern „goldne Gewässer“ und „Meergrundwunder“ verleihen der Szenerie eine fast mystische Qualität, in der Rauch und Duft eine bedeutende Rolle spielen. Der Dichter scheint in diesem Raum gefangen zu sein, umgeben von Nebel und schillernden Lichtern, die eine fast hypnotische Wirkung haben.
Die dritte Strophe führt eine weitere Dimension ein: die der Spiritualität und des Traums. Die „alten süßen Madonnen“ mit ihrem „goldrundem Schein“ laden zum Verweilen und Träumen ein. „Rieselnde Träume“ umfangen den Dichter, während „säuselnde Lieder“ ihn in einen Zustand der Glückseligkeit versetzen. In dieser Phase scheint der Dichter der Welt entrückt zu sein, eingetaucht in eine Welt der Ruhe, der Schönheit und des sanften Verfalls.
Die letzte Strophe vollzieht einen Wechsel, der die vorher beschriebene Idylle stört. Das „leise girrende Locken“ des Frühlings und der „Duftrausch“ der Sommernächte scheinen den Dichter nicht zu berühren. Stattdessen vernimmt er „weiße Glocken“ und „goldiges Licht“, die aus der Ferne zu ihm dringen. Diese Elemente suggerieren eine Sehnsucht nach einer anderen Welt, einem Ort der Reinheit und des spirituellen Erwachens. Das Gedicht endet mit einem Gefühl der Distanzierung und der Suche, wobei die genaue Bedeutung des „goldigen Lichts“ offen bleibt.
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Lizenz und Verwendung
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