O die ihr nie auf Gipfeln
O die ihr nie auf Gipfeln aufwachen dürft,
Ihr nachtgezeugten Menschen könnt die Erde liebend nie umschlingen!
Ihr müsst euch täglich immer neu aus dumpfen Nebeldämpfen ringen!
O die ihr Straßen schottert und Kanäle schürft:
Die Erde muss geebnet sein für euren nachtbeschwerten Gang,
Dampfwalzen stanzen und die Erdarbeiter müssen stampfen tagelang,
Neubauten krallen mit Gestöhn und mit Geramm
Sich langsam in den Makadam,
Und so sind Häuser hingestülpt und kleben an dem Erdenrand,
Schwarz angelaufene Kadaver, nie berührt von einer himmlischen Hand.
Die Kinder zetern und die Mütter seufzen und die Kranken sterben immer,
Und alles glaubt doch tief an Gott trotz Fluch und Ekel und Gewimmer.
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „O die ihr nie auf Gipfeln“ von Yvan Goll beschreibt in düsteren Bildern die Schwere und Enge des menschlichen Daseins, das geprägt ist von harter Arbeit, Tristesse und Entfremdung. Die ersten Verse stellen eine scharfe Trennung zwischen denjenigen her, die die Freiheit und Erhabenheit der Natur erfahren dürfen, und denen, die in den Niederungen des Alltags gefangen sind. Wer „nachtgezeugt“ ist, bleibt im Nebel, in der Dunkelheit der Städte, und kann die Erde nicht „liebend umschlingen“ – eine bittere Anklage gegen die Unfreiheit der modernen Existenz.
Die Welt der Arbeiter wird als mechanisierte, erdrückende Landschaft dargestellt: Straßen müssen geebnet, Kanäle gegraben und Neubauten mit Mühsal errichtet werden. Die Sprache ist hart und dröhnend – „stampfen“, „rammen“, „Dampfwalzen“ – all diese Begriffe rufen das Bild einer entfremdeten, industriellen Welt hervor, in der Mensch und Natur aufgerieben werden. Die Städte selbst erscheinen wie tote Körper, „schwarz angelaufene Kadaver“, die den Himmel nie berühren.
Besonders eindrücklich ist der Kontrast zwischen der trostlosen Realität und dem unerschütterlichen Glauben an Gott. Trotz des Leidens – symbolisiert durch das „Fluch und Ekel und Gewimmer“ – bleibt die Hoffnung bestehen. Dies kann sowohl als verzweifelte Anklage gegen eine Welt, die den Menschen quält, als auch als bitterer Kommentar zur menschlichen Fähigkeit verstanden werden, selbst im größten Elend noch an eine höhere Macht zu glauben. Golls Gedicht ist somit eine tief pessimistische Reflexion über die Härte der modernen Existenz, geprägt von Arbeit, Entfremdung und einer fast verzweifelten Suche nach Sinn.
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Lizenz und Verwendung
Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.