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Mahomets Gesang

Von

Seht den Felsenquell,
Freudehell,
Wie ein Sternenblick;
Über Wolken
Nährten seine Jugend
Gute Geister
Zwischen Klippen im Gebüsch.

Jünglingsfrisch
Tanzt er aus der Wolke
Auf die Marmorfelsen nieder,
Jauchzet wieder
Nach dem Himmel.

Durch die Gipfelgänge
Jagt er bunten Kieseln nach,
Und mit frühem Führertritt
Reißt er seine Bruderquellen
Mit sich fort.

Drunten werden in dem Tal
Unter seinem Fußtritt Blumen,
Und die Wiese
Lebt von seinem Hauch.

Doch ihn hält kein Schattental,
Keine Blumen,
Die ihm seine Knie umschlingen,
Ihm mit Liebesaugen schmeicheln:
Nach der Ebne dringt sein Lauf
Schlangenwandelnd.

Bäche schmiegen
Sich gesellig an. Nun tritt er
In die Ebne silberprangend,
Und die Ebne prangt mit ihm,
Und die Flüsse von der Ebne
Und die Bäche von den Bergen
Jauchzen ihm und rufen: Bruder!
Bruder, nimm die Brüder mit,
Mit zu deinem alten Vater,
Zu dem ewgen Ozean,
Der mit ausgespannten Armen
Unser wartet
Die sich, ach! vergebens öffnen,
Seine Sehnenden zu fassen;
Denn uns frißt in öder Wüste
Gierger Sand; die Sonne droben
Saugt an unserm Blut; ein Hügel
Hemmet uns zum Teiche! Bruder,
Nimm die Brüder von der Ebne,
Nimm die Brüder von den Bergen
Mit, zu deinem Vater mit!

Kommt ihr alle! –
Und nun schwillt er
Herrlicher; ein ganz Geschlechte
Trägt den Fürsten hoch empor!
Und im rollenden Triumphe
Gibt er Ländern Namen, Städte
Werden unter seinem Fuß.

Unaufhaltsam rauscht er weiter,
Läßt der Türme Flammengipfel,
Marmorhäuser, eine Schöpfung
Seiner Fülle, hinter sich.

Zedernhäuser trägt der Atlas
Auf den Riesenschultern; sausend
Wehen über seinem Haupte
Tausend Flaggen durch die Lüfte,
Zeugen seiner Herrlichkeit.

Und so trägt er seine Brüder,
Seine Schätze, seine Kinder
Dem erwartenden Erzeuger
Freudebrausend an das Herz.

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Gedicht: Mahomets Gesang von Johann Wolfgang von Goethe

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Mahomets Gesang“ von Johann Wolfgang von Goethe nutzt das Bild eines Quells, der zu einem mächtigen Strom heranwächst, als Allegorie für das Leben eines großen Führers – möglicherweise des Propheten Mohammed, aber auch allgemeiner für einen visionären Anführer. Der Strom steht symbolisch für eine geistige oder politische Bewegung, die klein beginnt, sich stetig vergrößert und schließlich eine unaufhaltsame Kraft wird.

Zu Beginn entspringt die Quelle hoch oben in den Bergen, rein und jugendlich, genährt von den „guten Geistern“. Ihre Unschuld und Frische spiegeln die frühen Jahre eines bedeutenden Menschen wider. Schnell wächst sie heran, reißt andere Wasser mit sich und beginnt, die Umgebung zu beeinflussen – Blumen blühen unter ihrem Einfluss, die Landschaft lebt durch ihre Gegenwart. Dies verweist darauf, wie eine große Persönlichkeit oder Idee das Umfeld verändern und beleben kann.

Im weiteren Verlauf sammelt der Strom immer mehr Bäche und Flüsse ein, die ihn als „Bruder“ anerkennen und ihm folgen wollen. Dies verdeutlicht, wie ein charismatischer Anführer Anhänger gewinnt, die in ihm eine Verbindung zu einem höheren Ziel sehen. Schließlich erreicht der Strom die Ebene und wächst zur unaufhaltsamen Macht heran, die Städte prägt, Länder benennt und eine gesamte Zivilisation mit sich reißt. Die Bewegung wird zu einem Triumphzug, der in einer grandiosen Vereinigung mit dem „ewgen Ozean“ endet – eine mögliche Metapher für das Verschmelzen mit einer höheren, göttlichen Ordnung oder die endgültige Vollendung eines Lebenswerks.

Das Gedicht fasst so die Idee eines schicksalhaften Aufstiegs zusammen: Ein einzelnes Wesen oder eine Idee kann aus kleinen Anfängen heraus eine riesige Wirkung entfalten, Anhänger sammeln und schließlich eine tiefgreifende Veränderung der Welt bewirken. Die fließende, rauschende Sprache spiegelt die unaufhaltsame Kraft dieser Bewegung wider, während die Naturmetaphorik das Wachstum und die Dynamik des Lebens symbolisiert.

Weitere Informationen

Hier finden sich noch weitere Informationen zu diesem Gedicht und der Seite.

Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.