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Das Sonett

Von

Sich in erneutem Kunstgebrauch zu üben,
Ist heilge Pflicht, die wir dir auferlegen.
Du kannst dich auch, wie wir, bestimmt bewegen
Nach Tritt und Schritt, wie es dir vorgeschrieben.

Denn eben die Beschränkung läßt sich lieben,
Wenn sich die Geister gar gewaltig regen;
Und wie sie sich denn auch gebärden mögen,
Das Werk zuletzt ist doch vollendet blieben.

So möcht ich selbst in künstlichen Sonetten,
In sprachgewandter Mühe kühnem Stolze,
Das Beste, was Gefühl mir gäbe, reimen;

Nur weiß ich hier mich nicht bequem zu betten.
Ich schneide sonst so gern aus ganzem Holze,
Und müßte nun doch auch mitunter leimen.

Natur und Kunst, sie scheinen sich zu fliehen
Und haben sich, eh man es denkt, gefunden;
Der Widerwille ist auch mir verschwunden,
Und beide scheinen gleich mich anzuziehen.

Es gilt wohl nur ein redliches Bemühen!
Und wenn wir erst in abgemeßnen Stunden
Mit Geist und Fleiß uns an die Kunst gebunden,
Mag frei Natur im Herzen wieder glühen.

So ists mit aller Bildung auch beschaffen:
Vergebens werden ungebundne Geister
Nach der Vollendung reiner Höhe streben.

Wer Großes will, muß sich zusammenraffen;
In der Beschränkung zeigt sich erst der Meister,
Und das Gesetz nur kann uns Freiheit geben.

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Gedicht: Das Sonett von Johann Wolfgang von Goethe

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Das Sonett“ von Johann Wolfgang von Goethe reflektiert das Spannungsverhältnis zwischen künstlerischer Freiheit und formaler Beschränkung. In den ersten beiden Strophen betont das lyrische Ich die Notwendigkeit, sich an feste Regeln zu halten. Gerade in der Beschränkung liegt eine produktive Herausforderung, die es erlaubt, schöpferische Kraft zu entfalten. Dies gilt auch für das Schreiben von Sonetten, einer strengen Versform, mit der sich der Sprecher bewusst auseinandersetzt. Dennoch empfindet er eine gewisse Schwierigkeit dabei, denn er ist es gewohnt, „aus ganzem Holze“ zu schnitzen – also frei und ohne formale Vorgaben zu dichten.

Die zweite Hälfte des Gedichts vertieft diese Reflexion und führt zur Erkenntnis, dass Natur und Kunst keine Gegensätze sind, sondern sich letztlich ergänzen. Anfangs scheint die Regelhaftigkeit der Kunst die Natürlichkeit des Ausdrucks zu hemmen, doch bei genauerer Betrachtung zeigt sich, dass eine harmonische Verbindung zwischen beiden möglich ist. Die Disziplin der Kunst gibt der natürlichen Inspiration eine Richtung und verstärkt sie sogar.

Die abschließende Strophe fasst diese Einsicht in eine allgemeine Bildungstheorie: Ungebundene Geister, die sich völlig der Freiheit hingeben, werden niemals wahre Meisterschaft erreichen. Erst durch bewusste Selbstbeschränkung und durch das Einhalten von Regeln entfaltet sich wahre Größe. Das berühmte Fazit „„In der Beschränkung zeigt sich erst der Meister, / Und das Gesetz nur kann uns Freiheit geben.““ bringt diese Idee prägnant auf den Punkt: Gerade durch die bewusste Einhaltung von Normen und Strukturen entsteht wahre künstlerische Freiheit. Goethe formuliert hier eine kunstphilosophische Maxime, die weit über das Schreiben von Sonetten hinausreicht.

Weitere Informationen

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Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.