Stimmen im Strom
Liebende klagende zagende wesen
Nehmt eure zufluch in unser bereich –
Werdet geniessen und werdet genesen –
Arme und worte umwinden euch weich.
Leiber wie muscheln – korallene lippen
Schwimmen und tönen in schwankem palast –
Haar verschlungen in ästigen klippen
Nahend und wieder vom strudel erfasst.
Bläuliche lampen die halb nur erhellen –
Schwebende säulen auf kreisendem schuh
Geigend erzitternde ziehende wellen
Schaukeln in selig beschauliche ruh.
Müdet euch aber das sinnen das singen –
Fliessender freuden bedächtiger lauf –
Trifft euch ein kuss: und ihr löst euch in ringen
Gleitet als wogen hinab und hinauf
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Stimmen im Strom“ von Stefan George entführt den Leser in eine traumhafte, fast unwirkliche Unterwasserwelt, die zwischen sinnlicher Verlockung und unaufhaltsamer Strömung oszilliert. Die erste Strophe lädt „liebende, klagende, zagende Wesen“ dazu ein, Zuflucht in diesem Reich zu finden – einem Ort des Genusses und der Heilung. Die Sprache ist weich und umhüllend, wodurch das Wasser als metaphorischer Raum der Geborgenheit erscheint.
In der zweiten Strophe verstärkt sich die sinnliche Atmosphäre durch maritime Bilder: Körper sind wie Muscheln, Lippen wie Korallen, Haare verfangen sich in klippenartigen Strukturen. Doch diese Idylle ist nicht statisch – die Strömung ergreift die Körper, wirbelt sie durcheinander und gibt sie wieder frei. Dies deutet auf das Wechselspiel zwischen Hingabe und Verlust hin, das sich durch das gesamte Gedicht zieht.
Die dritte Strophe verstärkt das Gefühl eines schwebenden, rauschhaften Daseins. Das Licht bleibt diffus („bläuliche Lampen“), die Strukturen sind in Bewegung („schwebende Säulen“) und die Wellen erzeugen ein sanftes Schaukeln. Die gesamte Szenerie wirkt wie ein tranceartiger Tanz, in dem Zeit und Raum verschwimmen.
In der letzten Strophe wird die endgültige Auflösung angedeutet. Wer sich müde fühlt vom Sinnen und Singen, wer sich der Strömung und den fließenden Freuden hingibt, wird letztlich von einem Kuss erfasst und löst sich auf – gleitet als Woge weiter. Hier zeigt sich eine Verschmelzung von Lust und Vergänglichkeit, von sinnlichem Erleben und endgültigem Vergehen. Das Gedicht oszilliert somit zwischen Verführung, Traum und dem unausweichlichen Strudel der Zeit, in den alle Lebewesen letztlich hineingezogen werden.
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Lizenz und Verwendung
Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.