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Die Nachtigall und die Lerche

Von

Die Nachtigall sang einst mit vieler Kunst;
Ihr Lied erwarb der ganzen Gegend Gunst;
Die Blätter in den Gipfeln schwiegen
Und fühlten ein geheim Vergnügen.
Der Vögel Chor vergaß der Ruh‘
Und hörte Philomelen zu.
Aurora selbst verzog am Horizonte,
Weil sie die Sängerin nicht g’nug bewundern konnte.
Denn auch die Götter rührt der Schall
Der angenehmen Nachtigall;
Und ihr, der Göttin, ihr zu Ehren
Ließ Philomele sich noch zweimal schöner hören.
Sie schweigt darauf. Die Lerche naht sich ihr
Und spricht: „Du singst viel reizender als wir;
Dir wird mit Recht der Vorzug zugesprochen;
Doch eins gefällt uns nicht an dir,
Du singst das ganze Jahr nicht mehr als wenig Wochen.“

Doch Philomele lacht und spricht:
„Dein bittrer Vorwurf kränkt mich nicht
Und wird mir ewig Ehre bringen.
Ich singe kurze Zeit. Warum? Um schön zu singen.
Ich folg‘ im Singen der Natur;
So lange sie gebeut, so lange sing‘ ich nur.
Sobald sie nicht gebeut, so hör‘ ich auf zu singen;
Denn die Natur läßt sich nicht zwingen.“

O Dichter, denkt an Philomelen,
Singt nicht, so lang ihr singen wollt.
Natur und Geist, die euch beseelen,
Sind euch nur wenig Jahre hold.
Soll euer Witz die Welt entzücken,
So singt, so lang ihr feurig seid,
Und öffnet euch mit Meisterstücken
Den Eingang in die Ewigkeit.
Singt geistreich der Natur zu Ehren;
Und scheint euch die nicht mehr geneigt,
So eilt, um rühmlich aufzuhören,
Eh‘ ihr zu spät mit Schande schweigt.
Wer, sprecht ihr, will den Dichter zwingen?
Er bindet sich an keine Zeit.
So fahrt denn fort, noch alt zu singen,
Und singt euch um die Ewigkeit.

Gedicht als Bild, zum Downloaden und Teilen

Gedicht: Die Nachtigall und die Lerche von Christian Fürchtegott Gellert

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Die Nachtigall und die Lerche“ von Christian Fürchtegott Gellert thematisiert den künstlerischen Anspruch und die Vergänglichkeit schöpferischer Kraft. In einer Fabelstruktur wird die Nachtigall als Inbegriff des vollendeten Gesangs dargestellt, deren Kunst selbst die Natur und die Götter beeindruckt. Die Lerche hingegen kritisiert, dass die Nachtigall nur wenige Wochen im Jahr singt, während sie selbst das ganze Jahr hindurch ihre Stimme erhebt.

Die Antwort der Nachtigall enthält die zentrale Botschaft des Gedichts: Wahre Kunst folgt der Natur und nicht dem Zwang, ständig zu produzieren. Sie singt nur dann, wenn die Inspiration gegeben ist, und verweigert sich der Mittelmäßigkeit. Diese Haltung wird als ideal dargestellt – Qualität geht vor Quantität. Der letzte Teil des Gedichts überträgt diese Einsicht auf Dichter und Künstler allgemein: Sie sollen ihre Schaffenskraft nur dann nutzen, wenn Geist und Natur es erlauben, um Meisterwerke zu schaffen, die unvergänglich bleiben.

Die abschließende Mahnung warnt vor dem Verfall künstlerischer Größe durch Überproduktion. Wer zu lange und ohne echte Inspiration dichtet, riskiert, seinen Ruf zu verlieren. Gellert propagiert also einen bewussten Umgang mit Talent und Schöpfungskraft, indem er zur Selbstbeschränkung im Dienste der Kunst aufruft. Damit formuliert das Gedicht eine zeitlose Reflexion über die Natur des schöpferischen Prozesses und den Wunsch nach Unsterblichkeit durch herausragende Werke.

Weitere Informationen

Hier finden sich noch weitere Informationen zu diesem Gedicht und der Seite.

Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.