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Der Blinde und der Lahme

Von

Von ungefähr muß einen Blinden
Ein Lahmer auf der Straße finden,
Und jener hofft schon freudenvoll
Daß ihn der andre leiten soll.

Dir, spricht der Lahme, beizustehen?
Ich armer Mann kann selbst nicht gehen;
Doch scheint’s, daß du zu einer Last
Noch sehr gesunde Schultern hast.

Entschließe dich, mich fortzutragen,
So will ich dir die Stege sagen:
So wird dein starker Fuß mein Bein,
Mein helles Auge deines sein.

Der Lahme hängt, mit seinen Krücken,
Sich auf des Blinden breiten Rücken.
Vereint wirkt also dieses Paar,
Was einzeln keinem möglich war.

Du hast das nicht, was andre haben,
Und andern mangeln deine Gaben;
Aus dieser Unvollkommenheit
Entspringet die Geselligkeit.

Wenn jenem nicht die Gabe fehlte,
Die die Natur für mich erwählte,
So würd‘ er nur für sich allein
Und nicht für mich bekümmert sein.

Beschwer die Götter nicht mit Klagen!
Der Vorteil, den sie dir versagen
Und jenem schenken, wird gemein:
Wir dürfen nur gesellig sein.

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Gedicht: Der Blinde und der Lahme von Christian Fürchtegott Gellert

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Der Blinde und der Lahme“ von Christian Fürchtegott Gellert vermittelt eine moralische Lehre über die gegenseitige Hilfe und den Wert der Gemeinschaft. Die beiden Hauptfiguren – ein Blinder und ein Lahmer – stehen jeweils für eine menschliche Einschränkung, die sie allein hilflos macht. Erst durch ihre Zusammenarbeit können sie ihre Schwächen ausgleichen und gemeinsam vorankommen.

Die Geschichte illustriert ein zentrales Prinzip der zwischenmenschlichen Unterstützung: Der Lahme bringt seine Sehfähigkeit ein, während der Blinde ihn mit seiner körperlichen Kraft trägt. Diese wechselseitige Ergänzung zeigt, dass Menschen mit unterschiedlichen Fähigkeiten einander bereichern können. Gellert formuliert dies als allgemeingültige soziale Weisheit: Jeder Mensch hat Stärken und Schwächen, doch gerade daraus entsteht das Bedürfnis nach Zusammenarbeit und Geselligkeit.

Die letzte Strophe hebt diesen Gedanken noch einmal hervor, indem sie die natürliche Ungleichheit nicht als Mangel, sondern als Grundlage für soziale Bindungen darstellt. Wer sich nur auf seine eigenen Vorteile konzentriert, bleibt isoliert; erst durch Kooperation entsteht ein gemeinsamer Nutzen. Damit plädiert das Gedicht für eine Haltung der Dankbarkeit und der gegenseitigen Unterstützung, die das menschliche Zusammenleben erst möglich macht.

Weitere Informationen

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Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.