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Der alte Dichter und der junge Kritikus

Von

Ein Jüngling stritt mit einem Alten
Sehr lebhaft über ein Gedicht.
Der Alte hielt’s für schön; der Jüngling aber nicht,
Und hatte recht, es nicht für schön zu halten.
Er wies dem Alten Schritt für Schritt
Hier bald das Matte, dort das Leere
Und dachte nicht, daß der, mit dem er stritt,
Der Autor des Gedichtes wäre.

„Wie“, sprach der Alte ganz erhitzt,
„Sie tadeln Ausdruck und Gedanken?
Mein Herr, Sie sind zu jung, mit einem Mann zu zanken,
Den Fleiß, Geschmack und Alter schützt.
Da man Sie noch im Arm getragen,
Hab‘ ich der Kunst schon nachgedacht.
Und kurz: was würden Sie wohl sagen,
Wenn ich die Verse selbst gemacht?“

„Ich“, sprach er, „würde, weil Sie fragen,
Ich würde ganz gelassen sagen,
Daß man, Geschmack und Dichtkunst zu entweihn,
Oft nichts mehr braucht, als alt und stolz zu sein.“

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Gedicht: Der alte Dichter und der junge Kritikus von Christian Fürchtegott Gellert

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Der alte Dichter und der junge Kritikus“ von Christian Fürchtegott Gellert behandelt mit feiner Ironie den Konflikt zwischen Erfahrung und Kritik, zwischen traditioneller Autorität und jugendlicher Urteilsfreude. Ein junger Kritiker wagt es, ein Gedicht zu analysieren und weist auf dessen Schwächen hin, ohne zu wissen, dass er mit dem Verfasser selbst spricht. Sein Urteil basiert auf objektiven Kriterien, doch der alte Dichter fühlt sich durch sein Alter und seine Erfahrung automatisch im Recht.

Die Pointe des Gedichts liegt in der Reaktion des Alten: Statt die Kritik sachlich zu entkräften, beruft er sich auf seine lange Beschäftigung mit der Dichtkunst und weist den Jüngling aufgrund seines Alters zurecht. Dies offenbart eine Arroganz, die nicht aus der Qualität seines Werks, sondern aus seinem Selbstverständnis als erfahrener Dichter herrührt. Gellert stellt damit die Frage, ob Autorität allein aus Lebensjahren erwächst oder ob echte Kunstfertigkeit ständiger Prüfung und Weiterentwicklung bedarf.

Die schlagfertige Antwort des Jünglings bildet den Höhepunkt des Gedichts: Er kontert die Selbstgefälligkeit des Alten mit der spitzen Bemerkung, dass Alter und Stolz oft ausreichen, um schlechten Geschmack und mangelndes Können zu rechtfertigen. Damit kritisiert Gellert nicht nur die Eitelkeit mancher Gelehrter, sondern auch eine Denkweise, die Kritik als Respektlosigkeit missversteht. Das Gedicht plädiert somit für Offenheit gegenüber neuen Sichtweisen und die Bereitschaft, sich auch im Alter noch hinterfragen zu lassen.

Weitere Informationen

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Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.