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Vor vierzig Jahren

Von

Da gab es doch ein Sehnen,
Ein Hoffen und ein Glühn,
Als noch der Mond „durch Tränen
In Fliederlauben“ schien,
Als man dem „milden Sterne“
Gesellte was da lieb,
Und „Lieder in die Ferne“
Auf sieben Meilen schrieb!

Ob dürftig das Erkennen,
Der Dichtung Flamme schwach,
Nur tief und tiefer brennen
Verdeckte Gluten nach.
Da lachte nicht der leere,
Der übersatte Spott,
Man baute die Altäre
Dem unbekannten Gott.

Und drüber man den Brodem
Des liebsten Weihrauchs trug,
Lebend’gen Herzens Odem,
Das frisch und kräftig schlug,
Das schamhaft, wie im Tode,
In Traumes Wundersarg
Noch der Begeistrung Ode
Der Lieb‘ Ekloge barg.

Wir höhnen oft und lachen
Der kaum vergangnen Zeit,
Und in der Wüste machen
Wie Strauße wir uns breit.
Ist Wissen denn Besitzen?
Ist denn Genießen Glück?
Auch Eises Gletscher blitzen
Und Basiliskenblick.

Ihr Greise, die gesunken
Wie Kinder in die Gruft,
Im letzten Hauche trunken
Von Lieb‘ und Ätherduft,
Ihr habt am Lebensbaume
Die reinste Frucht gepflegt,
In karger Spannen Raume
Ein Eden euch gehegt.

Nun aber sind die Zeiten,
Die überwerten, da,
Wo offen alle Weiten,
Und jede Ferne nah.
Wir wühlen in den Schätzen,
Wir schmettern in den Kampf,
Windsbräuten gleich versetzen
Uns Geistesflug und Dampf.

Mit unsres Spottes Gerten
Zerhaun wir was nicht Stahl,
Und wie Morganas Gärten
Zerrinnt das Ideal;
Was wir daheim gelassen
Das wird uns arm und klein,
Was Fremdes wir erfassen
Wird in der Hand zu Stein.

Es wogt von End‘ zu Ende,
Es grüßt im Fluge her,
Wir reichen unsre Hände,
– Sie bleiben kalt und leer. –
Nichts liebend, achtend wen’ge
Wird Herz und Wange bleich,
Und bettelhafte Kön’ge
Stehn wir im Steppenreich.

Gedicht als Bild, zum Downloaden und Teilen

Gedicht: Vor vierzig Jahren von Annette von Droste-Hülshoff

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Vor vierzig Jahren“ von Annette von Droste-Hülshoff reflektiert die Veränderung von Idealen und Werten im Laufe der Zeit und zieht eine scharfe Gegenüberstellung zwischen der leidenschaftlichen, idealistischen Vergangenheit und der kühlen, materialistischen Gegenwart. In der ersten Hälfte des Gedichts wird eine nostalgische Erinnerung an eine Zeit des „Sehnens“, „Hoffens“ und „Glühens“ wachgerufen, als die Menschen noch in einer Art magischer Welt lebten, in der „der Mond durch Tränen in Fliederlauben schien“ und „Lieder in die Ferne“ geschrieben wurden. Diese Zeit war von einer tiefen, oft unerfüllten Sehnsucht und einer ungetrübten Hingabe an höhere Ideale geprägt, symbolisiert durch den „milden Sterne“ und die „Altäre des unbekannten Gottes“. Diese Versinnbildlichung der Vergangenheit steht für eine Zeit der Reinheit und Leidenschaft, die von einer intensiven, spirituellen Ausrichtung begleitet war.

Im weiteren Verlauf des Gedichts wird diese Zeit jedoch in einen scharfen Kontrast zur Gegenwart gestellt. Die „Dichtung Flamme“ der Vergangenheit, die tief und stark brannte, wird als „verdeckt“ und „schwach“ dargestellt, ein Symbol für die Verdrängung von Idealismus und Enthusiasmus in der modernen Welt. Der Spott und die Oberflächlichkeit, die in der Gegenwart vorherrschen, lassen sich nicht länger mit der reineren, leidenschaftlicheren Welt von damals vergleichen. Die Frage „Ist Wissen denn Besitzen? Ist denn Genießen Glück?“ stellt das Streben nach Wissen und Besitz infrage und deutet darauf hin, dass die heutigen Werte, die auf Konsum und Oberflächlichkeit basieren, letztlich leer und unbefriedigend sind. Die „Eises Gletscher“ und der „Basiliskenblick“ symbolisieren die kühle, lebensfeindliche Atmosphäre der Gegenwart.

In der letzten Strophe des Gedichts richtet sich die Aufmerksamkeit auf die „Greise“, die in ihrer Jugend das „Leben gepflegt“ haben, indem sie sich an hohen Idealen orientierten und in einem „Eden“ der Reinheit und des Glaubens lebten. Doch auch sie, die in der Vergangenheit die „reinste Frucht“ des Lebens „gepflegt“ haben, sind im Alter von der kühlen, pragmatischen Realität der Gegenwart nicht unberührt. Diese „Greise“ haben im Laufe der Jahre ein tieferes Verständnis für das Leben erlangt, das ihnen nun von der modernen Welt der Oberflächlichkeit und des Materialismus entfremdet erscheint.

Die Schlussverse des Gedichts veranschaulichen die entmenschlichte, kalte Welt der Gegenwart, in der „Herz und Wange bleich“ sind und in der „Kön’ge“ nur „bettelhaft“ erscheinen. Die Menschen haben sich von ihren Idealen und tiefen Gefühlen entfernt, was in der Metapher der „kalten, leeren Hände“ zum Ausdruck kommt, die beim Versuch, einander zu erreichen, leer bleiben. Droste-Hülshoff stellt hier eine Welt dar, die von oberflächlichem Wissen, materiellen Werten und Spott beherrscht wird – eine Welt, in der das einst lebendige Ideal von Liebe und Hingabe zu Staub zerfällt und die Menschen sich in der „Steppenreich“ der Entfremdung wiederfinden.

Insgesamt kritisiert das Gedicht den Verlust von Idealismus und echter menschlicher Verbindung und zeichnet ein düsteres Bild der modernen Welt, die von oberflächlichem Konsum, Spott und Entfremdung geprägt ist. Es ist ein elegisches Werk, das die Vergänglichkeit von Werten und die Entfremdung des Menschen von seinen tiefsten Sehnsüchten thematisiert.

Weitere Informationen

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Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.