Lebt wohl
Lebt wohl, es kann nicht anders sein!
Spannt flatternd eure Segel aus,
Laßt mich in meinem Schloß allein,
Im öden geisterhaften Haus.
Lebt wohl und nehmt mein Herz mit euch
Und meinen letzten Sonnenstrahl;
Er scheide, scheide nur sogleich,
Denn scheiden muß er doch einmal.
Laßt mich an meines Seees Bord,
Mich schaukelnd mit der Wellen Strich,
Allein mit meinem Zauberwort,
Dem Alpengeist und meinem Ich.
Verlassen, aber einsam nicht,
Erschüttert, aber nicht zerdrückt,
Solange noch das heil’ge Licht
Auf mich mit Liebesaugen blickt.
Solange mir der frische Wald
Aus jedem Blatt Gesänge rauscht,
Aus jeder Klippe, jedem Spalt
Befreundet mir der Elfe lauscht.
Solange noch der Arm sich frei
Und waltend mir zum Äther streckt
Und jedes wilden Geiers Schrei
In mir die wilde Muse weckt.
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Lebt wohl“ von Annette von Droste-Hülshoff drückt eine Mischung aus Abschied, Einsamkeit und innerer Stärke aus. Zu Beginn des Gedichts wird der Abschied durch die Worte „Lebt wohl“ eingeleitet, was den endgültigen Verlust von etwas oder jemandem suggeriert. Die Segel werden „flatternd“ ausgebreitet, was eine unbestimmte, aber bestimmte Trennung von dem Sprecher symbolisiert. Das „öde geisterhafte Haus“ stellt eine leere, verlassene Welt dar, in der der Sprecher zurückgelassen wird. Doch trotz der scheinbaren Verlassenheit ist der Sprecher nicht völlig entmutigt.
Die zweite Strophe vertieft die Vorstellung vom Abschied und dem Verlust. Der Sprecher bietet an, sein „Herz“ und seinen „letzten Sonnenstrahl“ zu übergeben, was die tief empfundene Hingabe und den endgültigen Loslassensprozess verdeutlicht. Der Hinweis auf das „scheiden muss er doch einmal“ zeigt eine gewisse Akzeptanz des unausweichlichen Endes, das den natürlichen Fluss des Lebens widerspiegelt. Dieser Vers trägt eine resignierte, jedoch nicht verzweifelte Stimmung, sondern eher eine Art ruhiger Akzeptanz und innerer Weite.
In der dritten Strophe wird der Sprecher mit der Idee konfrontiert, sich in Einsamkeit zu finden, jedoch in einer Art, die nicht als leer oder depressiv, sondern als selbstgenügsam und von einem inneren Zauber durchzogen wahrgenommen wird. Das Bild des „See[s] Bordes“ und das „schaukeln mit der Wellen Strich“ steht symbolisch für eine Reise ins Innere des Selbst. Der „Alpengeist“ und das „Ich“ verweisen auf eine tiefe Verbindung zur Natur und zur eigenen Identität, die dem Sprecher auch in der Einsamkeit eine Quelle der Stärke und des Trostes bieten.
Die letzten Strophen des Gedichts bringen eine kraftvolle Wende hin zu einer positiven und befreienden Darstellung der Einsamkeit. Trotz der physischen Trennung fühlt sich der Sprecher durch die Natur und die „Lieder“ des Waldes und der „Elfe“ nicht allein. Es ist eine Einsamkeit, die von einer lebendigen, spirituellen Verbindung zur Welt umgeben ist, was die Zerrissenheit zwischen Verlassenheit und innerer Stärke aufhebt. Der „frische Wald“ und der „wilde Geiers Schrei“ inspirieren den Sprecher und erwecken in ihm eine „wilde Muse“, die ihn zu einer höheren kreativen und geistigen Wahrnehmung führt. Die Natur und das Übernatürliche sind für den Sprecher nie weit entfernt und stellen eine unerschöpfliche Quelle von Energie, Inspiration und spiritueller Nahrung dar.
Insgesamt zeigt das Gedicht einen Abschied, der nicht als Ende, sondern als Übergang in eine tiefere, persönliche Freiheit verstanden wird. Die Einsamkeit wird nicht als Verlust, sondern als Raum für Wachstum und schöpferische Entfaltung wahrgenommen.
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Lizenz und Verwendung
Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.