Logo der Website, Schriftzug "Poesie Oase" mit Palmen umrandet.
, , , , ,

Die Unbesungenen

Von

’s gibt Gräber wo die Klage schweigt,
Und nur das Herz von innen blutet,
Kein Tropfen in die Wimper steigt,
Und doch die Lava drinnen flutet;
’s gibt Gräber, die wie Wetternacht
An unserm Horizonte stehn
Und alles Leben niederhalten,
Und doch, wenn Abendrot erwacht,
Mit ihren goldnen Flügeln wehn
Wie milde Seraphimgestalten.

Zu heilig sind sie für das Lied,
Und mächtge Redner doch vor allen,
Sie nennen dir was nimmer schied,
Was nie und nimmer kann zerfallen;
O, wenn dich Zweifel drückt herab,
Und möchtest atmen Ätherluft,
Und möchtest schauen Seraphsflügel,
Dann tritt an deines Vaters Grab!
Dann tritt an deines Bruders Gruft!
Dann tritt an deines Kindes Hügel!

Gedicht als Bild, zum Downloaden und Teilen

Gedicht: Die Unbesungenen von Annette von Droste-Hülshoff

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Die Unbesungenen“ von Annette von Droste-Hülshoff beschäftigt sich mit der tiefen, oft unaussprechlichen Trauer und dem Verlust von geliebten Menschen. Die ersten Verse beschreiben Gräber, an denen „die Klage schweigt“, und doch ist der Schmerz „von innen“ spürbar. Es ist eine Art Trauer, die nicht in Tränen oder äußerem Ausdruck sichtbar wird, sondern sich im Inneren wie ein brodelnder, schmerzhafter Strom – „Lava“ – ausbreitet. Diese Gräber repräsentieren die tiefsten, privatesten Verluste, die nicht durch Worte oder öffentliche Trauerprozesse gemildert werden können.

Im weiteren Verlauf des Gedichts wird die Vorstellung von Gräbern, die „wie Wetternacht“ das Leben niederhalten, dargestellt. Diese Gräber sind nicht nur Orte des physischen Verfalls, sondern auch Metaphern für die dunklen, alles überwältigenden Trauerphasen, in denen das Leben selbst zum Erliegen kommt. Doch das Gedicht wechselt die Perspektive und offenbart, dass diese „Wetternacht“ – in Form des Abends – durch das „Abendrot“ und die „goldnen Flügel“ der Seraphim eine milde, fast tröstliche Transformation erfährt. Diese himmlischen Wesen stehen hier für den Trost und die Hoffnung, die der Glaube an das Leben nach dem Tod bieten kann.

Das Gedicht fordert uns dann auf, uns vor allem den „heiligen“ Gräbern zuzuwenden, die „zu heilig für das Lied“ sind – also den Gräbern von nahen Angehörigen wie dem Vater, Bruder oder Kind. Diese Gräber sind so tief mit Liebe und Erinnerung verbunden, dass sie der profanen Welt des Sprechens oder Klagens entzogen bleiben. Sie repräsentieren eine Trauer, die zu heilig und zu tief ist, um sie in Worte zu fassen. Droste-Hülshoff betont, dass der Schmerz dieser Verluste so groß und unvergleichlich ist, dass er sich nicht in die Welt der öffentlichen Klage eingliedern lässt. Stattdessen wird der Verlust in einer anderen Dimension, der Erinnerung und dem inneren Leben, erlebt.

Insgesamt drückt das Gedicht die universelle Erfahrung von Trauer aus – den Verlust von Menschen, die unersetzlich sind, und die Stille, die diese Verluste umgibt. Es ist ein Gedicht über die tiefere, unaussprechliche Trauer, die nicht in öffentlichen oder äußeren Formen der Klage ausgedrückt werden kann, sondern in der Stille und in der Erinnerung lebt. Droste-Hülshoff führt uns zu der Erkenntnis, dass es Gräber gibt, die so heilig sind, dass sie den Rahmen für Worte sprengen und nur im inneren Erleben und der spirituellen Welt verstanden werden können.

Weitere Informationen

Hier finden sich noch weitere Informationen zu diesem Gedicht und der Seite.

Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.