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Der Knabe im Moor

Von

O schaurig ist’s übers Moor zu gehn,
Wenn es wimmelt vom Heiderauche,
Sich wie Phantome die Dünste drehn
Und die Ranke häkelt am Strauche,
Unter jedem Tritte ein Quellchen springt,
Wenn aus der Spalte es zischt und singt,
O schaurig ist’s übers Moor zu gehn,
Wenn das Röhricht knistert im Hauche!

Fest hält die Fibel das zitternde Kind
Und rennt als ob man es jage;
Hohl über die Fläche sauset der Wind –
Was raschelt drüben am Hage?
Das ist der gespenstige Gräberknecht,
Der dem Meister die besten Torfe verzecht;
Hu, hu, es bricht wie ein irres Rind!
Hinducket das Knäblein zage.

Vom Ufer starret Gestumpf hervor,
Unheimlich nicket die Föhre,
Der Knabe rennt, gespannt das Ohr,
Durch Riesenhalme wie Speere;
Und wie es rieselt und knittert darin!
Das ist die unselige Spinnerin,
Das ist die gebannte Spinnlenor‘,
Die den Haspel dreht im Geröhre!

Voran, voran, nur immer im Lauf,
Voran als woll‘ es ihn holen;
Vor seinem Fuße brodelt es auf,
Es pfeift ihm unter den Sohlen
Wie eine gespenstige Melodei;
Das ist der Geigemann ungetreu
Das ist der diebische Fiedler Knauf,
Der den Hochzeitheller gestohlen!

Da birst das Moor, ein Seufzer geht
Hervor aus der klaffenden Höhle;
Weh, weh, da ruft die verdammte Margret:
„Ho, ho, meine arme Seele!“
Der Knabe springt wie ein wundes Reh,
Wär‘ nicht Schutzengel in seiner Näh‘,
Seine bleichenden Knöchelchen fände spät
Ein Gräber im Moorgeschwele.

Da mählich gründet der Boden sich,
Und drüben, neben der Weide,
Die Lampe flimmert so heimatlich,
Der Knabe steht an der Scheide.
Tief atmet er auf, zum Moor zurück
Noch immer wirft er den scheuen Blick:
Ja, im Geröhre war’s fürchterlich,
O schaurig war’s in der Heide!

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Gedicht: Der Knabe im Moor von Annette von Droste-Hülshoff

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Der Knabe im Moor“ von Annette von Droste-Hülshoff vermittelt auf eindrucksvolle Weise die unheimliche Atmosphäre eines Moorgebiets und schildert die Angst und Verwirrung eines Kindes, das sich in einer bedrohlichen, gespenstischen Landschaft verliert. Die wiederholte Betonung des „schaurigen“ Empfindens beim Durchqueren des Moors verstärkt die düstere Stimmung und verweist auf die Gefahren und das Übernatürliche, das mit diesem Ort verbunden ist. Der junge Knabe läuft durch das Moor, das von gespenstischen Erscheinungen und düsteren Geräuschen durchzogen ist. Die Natur wird hier als unheimlich und lebendig dargestellt, fast als ob das Moor selbst ein eigenes Bewusstsein hätte, das die Schritte des Knaben verfolgt.

Die Landschaft wird durch die Vielzahl von bedrohlichen Bildern lebendig: Die „Phantome“ in den Düsten, das Zischen und Singen aus den Spalten des Moors und das Rascheln der Ranken, die den Knaben immer mehr in ihren Bann zu ziehen scheinen. Diese Elemente sind nicht nur Naturbeschreibungen, sondern auch Metaphern für die inneren Ängste und das bedrohliche Unbekannte, das den Knaben in seiner Reise begleitet. Die wiederholten Geräusche und das unheilvolle Murmeln der Natur lassen den Leser das Gefühl von Verunsicherung und Gefahr nachempfinden, das der Knabe durchlebt.

Die vielen Gestalten, denen der Knabe begegnet, sind ebenfalls Ausdruck von Angst und übernatürlichen Kräften. Die „gespenstischen“ Figuren wie der „Gräberknecht“ oder die „Spinnerin“ gehören zu einer Welt jenseits des Gewöhnlichen und verstärken das Gefühl der Bedrohung. Besonders auffällig ist die Figur der Margret, die aus der „klaffenden Höhle“ ruft und deren verzweifelte Worte einen starken Gegensatz zu der heilen Welt des Knaben darstellen. Der „Schutzengel“, der den Knaben rettet, ist eine symbolische Figur für das Gute, das den Jungen vor den dunklen Mächten schützt, und könnte als eine Art göttliche Intervention oder eine symbolische Kraft des Schutzes verstanden werden.

Der Gedichtschluss mit dem wieder sicheren Erreichen der „Weide“ und dem „flimmernden Licht“ symbolisiert die Rückkehr in die vertraute Welt, die mit Sicherheit und Heimat verbunden ist. Der Knabe atmet tief auf und blickt zurück auf das Moor, als hätte er eine bedrohliche Grenze überschritten und einen gefährlichen Bereich hinter sich gelassen. Doch der letzte Blick auf das Moor bleibt von einer gewissen Unruhe geprägt, was darauf hinweist, dass die Erfahrung des Schaurigen und des Unheimlichen im Gedächtnis des Knaben weiterlebt. Das Gedicht thematisiert damit nicht nur die physische Reise des Knaben durch das Moor, sondern auch eine innere Reise der Angst, der Konfrontation mit dem Unbekannten und der Rückkehr in die Sicherheit der bekannten Welt.

Weitere Informationen

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Lizenz und Verwendung

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